Engel des Todes
präzisierte Monroe. »Ein recht bekanntes Stück. Fachleute analysieren noch, welche Aufnahme es sein könnte, und selbstverständlich gehen wir auch den CD -Käufen der letzten Zeit nach, aber in dieser Hinsicht habe ich nicht viel Hoffnung. Das Stück hätte man sich auch aus dem Internet herunterladen können.«
»Und das andere?«, fragte sie, obwohl sie es leid war, die Stichwortgeberin zu spielen.
»Sie haben mich vor kurzem gefragt, wo der Ursprung des Verbrechens liegen könnte«, fuhr Monroe fort. »Wo für den Täter alles angefangen hat. Es sieht so aus, als ob Sie mit Ihrer Vermutung richtigliegen.«
Er schob ihr die Papiere hin. »Lesen Sie das mal.«
Sie las:
»Gut ist der Schlaf, der Tod ist besser freilich/
Das Beste wäre, nie geboren sein.«
Seine Mutter erlaubte seiner Großmutter nicht, im Haus zu rauchen. An manchen Tagen war die alte Dame gar nicht gut zu sprechen, und an anderen Tagen ließ sie nicht locker, bis man sie auf die Veranda trug. Dort blieb sie dann, ganz gleich, wie kalt es war oder ob es wie aus Gießkannen regnete. Seine Mutter half ihr nicht wieder herein, und sie verbot auch ihm, der Großmutter zu helfen. Gnade ihm Gott, wenn er ihr nicht gehorchte. Großmutter blieb draußen sitzen, bis ihre Tochter sich dazu bequemte, sie wieder hereinzuholen. Das tat sie am Ende auch, aber ohne jedes Zartgefühl.
Einmal, es war an einem sehr kalten Nachmittag, als Eiszapfen vom Dach herabhingen, fragte er seine Großmutter, warum ihr so sehr daran lag, draußen auf der Veranda zu sitzen, wenn es doch drinnen so warm und gemütlich war.
Sie starrte lange vor sich hin, bis er sich fragte, ob sie ihn überhaupt verstanden hatte.
»Kennst du den Witz mit dem Huhn?«, fragte sie ihn schließlich. »Warum läuft das Huhn über die Straße?«
Ja, den kenne er. Um auf die andere Seite zu kommen.
»Nun, mit den Zigaretten ist es genauso.«
»Das verstehe ich nicht.«
Sie überlegte wieder eine Weile. »Am Ende hast du das Gefühl, auf der falschen Seite der Straße zu leben. Besser kann ich es nicht ausdrücken. Jede Nacht musst du im Dunkeln auf die andere Seite rüber, um daheim zu sein. Du merkst nicht, ob Autos kommen, weil der Wind bläst und alles übertönt, aber das ist schon in Ordnung, denn die Straße ist nicht viel befahren. Aber je öfter man im Dunkeln die Straße überquert, desto wahrscheinlicher wird es, dass dich früher oder später ein Auto überfährt. Die Autos sind der Krebs, sie sind groß und hart und fahren sehr schnell. Und wenn sie dich erwischen, bist du dran.«
»Warum gehst du dann weiter über die Straße?«
Sie lächelte trocken. »Um auf die andere Seite zu kommen.« Dann zuckte sie die Achseln. »Weißt du, es ist zu spät. Du hast dein Bett gemacht, nun musst du dich auch hineinlegen. Am Ende kannst du nicht mehr tun, als dafür zu sorgen, nicht auf der falschen Seite der Straße zu leben.«
Sie hustete eine Weile und zündete sich dann eine weitere Zigarette an. Sie nahm einen tiefen Zug, hielt die Zigarette hoch und betrachtete das glühende Ende. »Fang bloß nicht mit diesem Scheiß an, hörst du?«
»Bestimmt nicht«, versprach er.
Er tat alles, um ihrem Rat zu folgen. Er trank nur mäßig, nahm nie Drogen und achtete darauf, dass weder irgendeine bestimmte Diät noch Sport, noch Pornografie, noch das Sammeln von Porzellanpuppen ihm das Gefühl geben würde, einen Freund erworben zu haben.
Und dann – sieben Jahre ist es her – stand er doch eines Nachts mit Blut an den Händen da und merkte, dass er seinen Tabak gefunden hatte.
»Um Himmels willen«, sagte Nina entsetzt.
»Er hat vorher schon getötet«, folgerte Monroe.
»Oder er möchte, dass wir das von ihm glauben.«
Monroe lächelte schmallippig. »Jedenfalls ist er fähig, es wieder zu tun. Sind wir uns da einig?«
»Ja«, sagte sie. »Da bin ich Ihrer Meinung.« Ihre Augen waren trocken vor Müdigkeit. »Von wem stammt das Zitat?«
»Das haben wir noch nicht herausbekommen.«
»Fehlt Ihnen etwas, Nina?« Olbrich fragte sie das.
Sie schüttelte den Kopf, immer noch auf das Papier starrend. »Ich bin nur sauer, das ist alles. Ein Text, der verkündet: ›Schaut her, das bin ich!‹, und ein Requiem. Mein Gott, was soll mand da sagen, das klingt wie der Serviervorschlag eines Geisteskranken.«
»Dass er von sich selbst in der dritten Person spricht, ist das nicht merkwürdig?«, fragte Olbrich.
»Nicht unbedingt«, sagte Nina. »Das ist bei Verhören oft beobachtet
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