Engel des Todes
Nina«, sagte Monroe. »Gönnen Sie sich etwas Schlaf. Ich brauche Sie morgen früh in guter Form.«
Überrascht von seiner Stimme blickte Nina auf und merkte erst jetzt, dass sie für vielleicht dreißig Sekunden weggetreten war. Vince sah sie verdutzt an; Monroe ohne großes Mitgefühl. Nur Olbrich hatte so viel Taktgefühl, sie nicht anzuschauen.
Monroe richtete sich auf und sprach nun ausschließlich zu Olbrich, so dass klar war, dass Nina hier nicht weiter gebraucht wurde. Sie wartete, bis die beiden zu den anderen Polizisten am Tisch im Hintergrund hinübergingen. Dann wandte sie sich an das selbst ernannte Wunderkind und sprach es mit leiser, einnehmender Stimme an.
»Vince, darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«
Als sie zwanzig Minuten später das Gebäude verließ, hatte sie etwas in ihrer Handtasche. Sie spazierte in einen immer noch warmen Abend hinein und fragte sich, ob sie vorsätzlich ihre Karriere ruinieren wollte.
Sie musste mit jemandem sprechen, aber John ging nicht ans Telefon, und im Übrigen saß er noch tiefer in der Tinte als sie. Ihr blieb noch eine andere Wahl, und darüber dachte sie nach.
Ja, vielleicht. Jetzt wollte sie erst einmal nach Hause fahren und sich alles in Ruhe überlegen.
Als sie in die Zufahrt zu ihrem Haus einbog, war sie entschlossen, den Anruf zu machen. In der Küche blieb sie stehen und wählte die Nummer. Es klingelte lange, aber keiner nahm ab.
Sie hinterließ eine Mitteilung und fühlte sich wie eine der vielen verlorenen Stimmen, die in irgendwelchen Maschinen auf Antwort warten.
7
D er kleine Garten hinter Mrs. Campbells Haus entschädigte für alles, was der Vorgarten nicht hergab. Ich stand in ihrer Küche und wartete so geduldig wie möglich, während sie rumorte. Meine Mutter hatte mir einmal gesagt, der Tag, an dem man die Tasse Kaffee, die einem ein alter Mensch freundlich anbietet, nicht annimmt, sei der Tag, an dem diesem Menschen klarwird, dass er anderen das Warten nicht mehr wert ist. Ich kannte mich mit Pflanzen nicht die Bohne aus und interessierte mich überhaupt nicht für die Aussicht. Ich musste meine ganze Geduld aufbringen, um der alten Dame nicht an die Gurgel zu gehen.
»Muriel ist selbst ein Adoptivkind«, sagte sie, als sie mich endlich ins Wohnzimmer führte. »Hat sie Ihnen das gesagt?«
»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich trat rasch zu ihr und nahm ihr das Tablett ab. Zwar wusste ich nichts über den Benimm in solchen Fällen, aber nach meiner Einschätzung der Lage hätte sonst alles keine zehn Sekunden später auf dem Fußboden gelegen, und ich wollte nicht noch einmal warten, bis neuer Kaffee gebrüht war. »Sie hat mir nur gesagt, dass sie mir nicht weiterhelfen kann, und das war auch schon alles.«
»Sie kann manchmal so sein. Ich weiß noch, wie sie war, als sie dort angefangen hat. Die ersten Jahre sind nicht leicht für sie gewesen. Damals hatte ihr Mann sie verlassen, nicht ohne vorher das ganze Haus auszuräumen. Vermöbelt hat er sie auch noch. Wie auch immer, sie rappelte sich wieder auf und tat, was in dieser Lage zu tun war, und half noch vielen anderen Menschen. Viele, die auf die Behörden schimpfen, vergessen, dass Beamten auch Menschen sind und im Leben zu kämpfen haben.«
»Ich kann mir vorstellen, dass diese Arbeit nicht leicht ist«, räumte ich ein. »Mit einigen Leuten ist nicht gut Kirschen essen.«
»Das kann man wohl sagen. Allerdings gibt es auch unter den Beamten einige Kotzbrocken.«
Ich lachte. Sie nickte mir aufmunternd zu. »Sie sollten öfter lächeln«, sagte sie. »Sie sehen dann viel besser aus. Das gilt zwar für die meisten Menschen, aber für Sie ganz besonders. Wenn Sie nicht lächeln, machen Sie ein Gesicht, wie wenn Sie den Leuten was Böses tun wollten.«
»Das will ich aber gar nicht.«
»Das sagen Sie.«
»Mrs. Campbell, ich dachte eigentlich …«
»Ja, ich komme zur Sache. Sie suchen also einen Bruder, richtig? Muriel sagte mir, es gehe ins Jahr 1967 zurück. Das könnte stimmen. Nach meiner Erinnerung war es im Oktober. Obwohl ich gestehen muss, dass mein Gedächtnis nicht mehr das ist, was es früher einmal war. An Gegenstände kann ich mich noch gut erinnern, an bloße Fakten dagegen weniger gut.«
Ich nickte. Mir wurde es eng in der Brust.
»Ein chinesischer Ladenbesitzer hat ihn auf der Straße gefunden. Er war im Kleinkindalter. Keine Ahnung, wie lange er dort gewartet hat, aber er muss ziemlich lange geweint haben.«
»Meine Eltern hatten ihre
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