Engel des Todes
traf niemals mit jemandem wirklich zusammen, man ging kein Risiko ein, da kein körperlicher Kontakt zustande kam. Eigentlich tat man nie wirklich etwas. Man zog sich bloß aus und tat, was man auch sonst normalerweise tat, nur eben nackt. Fernsehen, die Küche aufräumen. Wenn der Freund dazukam, ließ man entweder die Kamera einfach laufen, oder man drehte sie kurz in die andere Richtung. Das Verrückte war nun, dass es für manche Zuschauer gerade dann am besten war, wenn man so wenig wie möglich tat. Jean erinnerte sich an einen Tag, als besonders viele zuschauten, und dabei lief sie gar nicht in Unterwäsche herum, sondern vergaß einfach die Kamera und machte ihren alltäglichen Kram wie jeder andere auch. Aber am nächsten Tag bekam sie haufenweise anzügliche Mails, die alle davon sprachen, wie »aufreizend« sie gewesen sei. Beim Thema Sex hatten Männer eine Schraube locker, das war Jeans feste Überzeugung. Wenn man glaubte, sie endlich in diesem Punkt verstanden zu haben, taten oder sagten sie wieder irgendetwas, bei dem man sich eingestehen musste, dass man nicht einmal annähernd erkannt hatte, wie schräg und abgefahren sie drauf waren. Hin und wieder hatte sie das unheimliche Gefühl, Sex mit ihren Gehirnen zu haben. Sie hatte Lust, mal einfach dazusitzen und dann plötzlich ein Transparent in die Kamera zu halten mit der Aufschrift: »Ich habe gestern Abend eine vegetarische Brühe zusammengekocht, und die Wohnung stinkt immer noch wie Kuhscheiße.« Aus dem Blickwinkel der Kamera gehen und etwas wirklich Geiles machen, da würden diesen Spannern die Augen aus dem Kopf fallen, wenn sie es nur sehen könnten. Oder einen donnernden Furz lassen, während man strahlend in die Kamera lächelt, und zu wissen: So groß und flach der Bildschirm von denen da draußen auch sein mag, sie werden doch nie alles über ihr Leben erfahren.
»Sie haben gesagt, Sie hätten Jessica dafür gewonnen«, sagte Nina. »Wie ist es denn dazu gekommen?«
»Vor anderthalb Jahren hatte ich ein Mädchen auf einer Party kennengelernt. Sie war damals schon Cam Girl und gab mir die E-Mail-Adresse eines Kerls, der Websites für Spanner anbietet. Der Typ nennt sich selber der Webdaddy, so schräg das auch klingen mag. Aber er kennt sich mit Computern und Internet aus. Man schickt dem Typ ein Foto; er mailt zurück, und dann klärt man mit ihm die Parameter und Grenzen, die gelten sollen – zum Beispiel, wie weit man sich ausziehen will, zu was man bereit ist, ob man einen Freund hat und falls ja, ob man mit ihm vor der Kamera rummachen würde, ob der Freund auch dafür sei und so weiter. Wenn Webdaddy zufrieden ist, schickt er eine CD mit allem, was für die Installation nötig ist. Man braucht einen eigenen Internetanschluss und besorgt sich beim nächsten Discounter eine Webcam für fünfzig Dollar. Um alles andere kümmert sich Webdaddy: die Internetseite, die Aufmachung und so weiter. Am Monatsende kommt dann ein Scheck. So einfach ist das.«
»Wissen Sie, wo dieser Mann wohnt?«
Jean schüttelte verneinend den Kopf. »Alles läuft über E-Mail. Bei Jessica war es genauso. Er ist doch im Internet – warum sollte man ihn im wirklichen Leben antreffen?«
»Aber wenn nun ein Problem im System auftauchte, oder wenn ein Scheck ausbleibt?«
»Sie schicken ihm eine Mail. Der Mann lebt im Internet, Gnädigste. Sie mailen ihn an, und kaum haben Sie auf ›Versenden‹ gedrückt, da kommt auch schon die Antwort.«
Man stellt die Webcam auf – eine billige, niedrig auflösende Digitalkamera genügt – und steckt das USB -Kabel in den Computer. Die Software erfasst das Bild, das durch die Kameralinse zu sehen ist, und lädt es automatisch in einen Webserver. Kurze Zeit später wird dieses Bild durch ein neues ersetzt und so weiter. Unterdessen hat draußen im Netz, wo sich Scharen von Männern mit viel freier Zeit tummeln, ein User die betreffende Internetseite in seinen Browser geladen und hat das Bild nun gerade vor sich auf dem Schirm. Wieder sorgt die Software dafür, dass dieses Bild in einem bestimmten Intervall durch ein neues von der Webcam ersetzt wird. Ein Zusammenspiel von Computern, Software und Internetanbietern, das vor zwanzig Jahren noch als Science-Fiction gegolten hätte; jahrelange technische Forschung und Entwicklung, Investitionen in Millionenhöhe, und voilà – Männer in Kansas, Cardiff und Antwerpen können sich zwanglos einen runterholen, während sie dem nackten Cam Girl in L.A. beim Staubsaugen
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