Engel des Todes
düster wirkt. Sie schaut zur Seite, vermutlich aus dem Fenster, obgleich diese Wand der Wohnung nie direkt zu sehen ist. Zwei Minuten später liegen ihre Füße auf dem Couchtisch, während sie mit halb heruntergebrannter Zigarette auf ihre Knie starrt. Sie sieht müde und abgekämpft aus.
Welche Gedanken sind ihr in dieser Zeit durch den Kopf gegangen? Das weiß unser Abonnent nicht. Diese Information ist im Verlauf der Übertragung zwischen ihr und ihm verlorengegangen. An irgendeinem Punkt im Prozess der Digitalisierung, Übermittlung, Speicherung und erneuten Bildprojektion in Rot, Grün und Blau. Dass es so gewesen sein muss, drängt sich auf, aber gewiss ist es nicht. Vielleicht geschah es auch in der letzten Sekunde, als die Information die Kluft zwischen dem Bildschirm und dem Geist eines anderen Menschen überspringen wollte. Alle Unterschiede in der Welt scheinen unwichtig, verglichen mit diesem einen: dem Unterschied zwischen meiner und deiner Existenz. Daran gemessen ist die Kluft zwischen Göttern und Menschen, Männern und Frauen, Toten und Lebenden fast belanglos.
Der Betrachter ist der Betrachter, und sie ist sie. Dazwischen liegen Welten.
Unser Abonnent schaut ihr zu und beginnt zu grübeln. Er kann alles tun, ohne die Antworten zu kennen, ohne sich mit den wahren Verhältnissen in der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Vielleicht ist es etwas Belangloses oder Lästiges, etwas, das im wirklichen Leben nur Verdruss bereitet: ein eingerissener Fingernagel, ein Blechschaden, die plötzliche Erkenntnis, dass sie schon auf die Dreißig zugeht und noch kein Kind bekommen hat. Vielleicht ist es aber auch etwas Gewichtigeres und Dunkleres, etwas, das unser Abonnent nicht kennt und nicht verstehen kann: eine schlimme Erfahrung mit einem Kunden (denn der Verdacht kommt ihm bisweilen, dass sie eine Prostituierte sein könnte); die Nachricht vom voraussehbaren Drogentod eines Freundes oder eine andere schlimme Nachricht, an der in dieser bösen Welt nie Mangel herrscht. Doch das macht alles nichts. Das ist ja das Schöne an dieser Webcam-Geschichte, am Internet und an unserer heutigen Welt überhaupt. Man schaut zu und denkt sich seinen Teil, oder man lässt die Bilder einfach an sich vorüberziehen, bis man genug hat. Dann schließt man die Datei und den Ordner, wo sie ihren Platz haben, steht auf und geht. Nicht anders die Fernsehnachrichten, Streiflichter aus Ruanda oder dem Irak oder Bilder von Showstars. Das ist das Leben anderer Leute und folglich deren Problem. Man selbst hat damit nichts zu tun.
So denkt unser Abonnent, oder vielmehr hat er so noch bis vor anderthalb Stunden gedacht. Da hatte er mit seiner Frau beim Abendessen gesessen, als plötzlich zwei FBI -Beamte, ein Mann und eine Frau, vor seiner Haustür standen. Nun wird er viel zu spät gewahr, dass Zuschauen auch im Internet eine zweiseitige Angelegenheit ist. Zugleich sind das die letzten Augenblicke einer heilen Ehe, denn nun berichtet die Beamtin, das Cam Girl namens Jessica sei tot und unser Abonnent sei ihr größter Verehrer, denn sein Computer sei die längste Zeit online mit dieser Internetseite verbunden gewesen.
Nun will das FBI mit dem Mann über das Schicksal der Toten reden, so wie Kriminalbeamte dies nun einmal tun. Die Miene seiner Frau ist mittlerweile so kalt, als wäre sie aus Marmor gemeißelt, aber für ihn gibt es keine Escape-Taste mehr.
Vierzig Minuten später kam Nina aus dem Wohnzimmer und ließ Jessicas Verehrer, dessen Name Greg McCain war, in Doug Olbrichs Obhut. Sie trat zu Monroe, der vom Flur aus zugehört hatte. McCain saß stocksteif auf der pittoresken alten Ledercouch. Er war Mitte dreißig und hatte einen teuren Haarschnitt in der Art eines Hugh Grant. Er hatte auf der Anwesenheit seines Anwalts bestanden. Vielleicht hätte man McCain sich selbst überlassen sollen, doch Olbrich saß ihm nun schweigend gegenüber. Manchmal wirkte das Wunder.
Monroe wandte sich Nina zu. »Was halten Sie von ihm?«
»Ich weiß nicht recht«, sagte sie. »Dank der Aussage seiner Frau hat er ein Alibi für den Zeitpunkt, als Ryan erschossen wurde. Sie sagt, er sei um Viertel vor acht zur Arbeit gegangen, und da sie ganz offenkundig stinksauer auf ihn ist, spricht nichts dafür, dass sie ihn aus Loyalität deckt.«
»Zu erfahren, dass der eigene Ehemann sich gern Frauen im Internet ansieht, ist nicht das Gleiche, wie ihn wegen des Mords an einem Polizisten fallenzulassen. Oder ihm eine solche Tat zuzutrauen.
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