Engel des Todes
Die Website ist schon seit ein paar Tagen nicht aktualisiert worden, was ungewöhnlich ist. Ein weiterer Grund, diese Software zu benutzen, liegt in der Option, die Bilderneuerungrate zu wählen. Ausschließlich für Mitglieder wird eine Rate angeboten, die alle fünfzehn Sekunden das Bild erneuert, oder man wählt jedes dritte oder jedes sechste Bild, was bedeutet, dass nur jede Minute oder alle zwei Minuten ein neues Bild kommt. Das mag abwegig erscheinen, wenn der Abonnent 19 , 99 Dollar monatlich für die Option einer rascheren Bilderneuerungsfrequenz zahlt, die einen realistischeren Eindruck vermitteln soll. Aber für den Abonnenten stellt sich gerade der gegenteilige Effekt ein. Eine Einstellung, die alle zwanzig Sekunden aktualisiert wird, wirkt so, als ob sie von einer Überwachungskamera aufgenommen würde. Diese Art der Wirklichkeitserfassung geht von der Voraussetzung aus, dass das Ausgelassene nicht wichtig ist. Aber das ist es. Die Wirklichkeit des Originals geht mit den ausgelassenen Bildern verloren. Werden die Lücken dagegen auf Abstände von einer oder zwei Minuten gedehnt, stellt sich plötzlich ein ganz anderer Eindruck ein. Durch die spürbaren Auslassungen erhalten die Bilder mit einem Mal mehr Gewicht und laden sich mit Bedeutung auf: ein Blütenkranz von Augenblicken, die zur Dauer geronnen sind, ein Gleichgewicht, das jederzeit in plötzliche Bewegung umkippen kann, ein Tanz in einer ins Stottern geratenen Zeit.
Der Zeitraum, während dem der Abonnent der nächsten Bilderneuerung harrt, füllt sich mit Erwartungen. In zwei Minuten kann die Person wie durch Magie von einem Ende der Couch zum anderen gewechselt sein, oder sie kann die gerade angezündete Zigarette scheinbar in Sekundenschnelle halb aufgeraucht haben. Zwei Minuten reichen, um eine Frau von der Couch in die Küche verschwinden zu lassen. Von dort taucht sie plötzlich wieder auf. Da sitzt sie. Im nächsten Bild ist sie plötzlich weg. Wohin? Außerhalb des Blickfeldes, von keinem Radar zu erreichen und vermutlich doch immer noch in der Wohnung. Im nächsten Bild ist sie wieder da. Zwei Minuten sind real. In zwei Minuten kann etwas passieren.
Dass die Frau halb nackt ist, spielt dabei kaum eine Rolle. Wäre sie ganz angezogen, wäre das allerdings ein Spartenwechsel. Webcam-Frauen in voller Montur sind ein Nischenangebot. Es gibt sie, sogar en masse, intelligente, überspannte junge Damen, die auf Websites ihre vor Originalität und Intensität triefenden Statements abgeben (wie peinlich wäre es, wenn sie sich einmal gegenseitig hören und dann entdecken würden, wie zum Verwechseln ähnlich ihre originellen und persönlichen Gedanken doch in Wirklichkeit sind). Doch solche Frauen interessieren unseren Abonnenten nicht. Die Frau auf dem Bildschirm ist wirklich hübsch. Er empfindet Vergnügen dabei, ihren Körper in immer gleichen zeitlichen Abständen zu betrachten. Aber er unterscheidet sich von den Horden der gewöhnlichen Spanner dadurch, dass er diese Frau und nicht nur ihre Brüste sehen will, was sich gut trifft, denn sie zeigt sie nur hin und wieder. Er betrachtet also die Frau, ihr gilt sein ganzes Interesse.
Diese Frau, die ihr Leben so eingerichtet hat, dass ihr überall auf der Welt Männer im Schein von Kathodenstrahlen oder Flachbildschirmen bei allem zuschauen können, was sie in ihrer Wohnung tut. Diese Frau hat eine akustische Gitarre, die sie hin und wieder in die Hand nimmt, aber nie sehr lange. Die, wenn sie allein zu Hause ist, im Verlauf eines Abends eine halbe Flasche Whisky trinkt. Die auf ihrer Couch gelegentlich Sex hat, was unseren Abonnenten aber nicht übermäßig interessiert, obwohl er einige solche Szenen auf Festplatte gespeichert hat, die er mit erhöhter Ladegeschwindigkeit ansieht. Die bei diesen Szenen nicht zur Kamera gewandt spielt, so dass man fast annehmen kann, dass sie ihr Vorhandensein schlicht vergessen hat.
Diese Frau, die aus irgendeinem Grund an einem Sonntagmorgen vor vier Wochen allein auf der Couch gesessen und geweint hat. Unser Abonnent hat dieses Video schon einmal gesehen und findet es aus schwer nachvollziehbaren Gründen faszinierend. Sie tritt aus dem Blickfeld, bleibt zwei Minuten lang unsichtbar und sitzt dann wieder auf der Couch. Sie hat sich in der Zwischenzeit wieder eine Zigarette angezündet und trägt nun einen blauen Morgenmantel. Das Haar hat sie sich hinter die Ohren gekämmt. Sie weint jetzt nicht mehr, auch wenn ihr Gesicht immer noch angespannt und
Weitere Kostenlose Bücher