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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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und sein Ziel nicht erreicht.
    Vater atmet tief, um seine Stimme aus dem Bauch zu zerren. Er presst sie in die Kehle, wo ihr der schneidende Schliff verpasst wird. Dann feuert er sie aus dem Mund in Form von glühenden Satzgeschossen. Irgendwann, mitten im Satz bricht er ab und geht, vielmehr, er läuft aus dem Haus. Da hilft kein Wort, kein Betteln, sogar Großmutter weicht zurück und greift nach dem Rosenkranz. Die kleine schwarze Öffnung in meinem Inneren verströmt Bäche von Dunkelheit.
    Mutter sagt, sie halte das nicht mehr aus, sie werde wohl oder übel nachschauen müssen, wohin Vater gerannt sei, man müsse verhindern, dass er sich was antue. Ich greife nach ihrer Hand und will ihr mit dem Druck meiner Finger bedeuten, dass ich mit ihr gehen möchte, dass sie erst gar nicht versuchen solle, mich abzuschütteln. Sie will mir die Hand tatsächlich entziehen, bleib hier, sagt sie, du sollst meine Hand loslassen! Ich denke nicht dran und beginne zu weinen. Ich weine, weil sich die Tote aus dem Teich in mir regt, sie jammert und ich schreie, dass man sofort etwas unternehmen müsse, damit es zu keinem Unglück komme. Mutter ist erstaunt über meine Entschiedenheit und lässt sich begleiten.
    Wir laufen über den Hof in Richtung Stall. Unsere Herzen pochen im Hals. Wir horchen gespannt, ob sich auf der Tenne, im Heu etwas rührt. Unsere Ohren sind so hellhörig, dass wir das Scharren jeder noch so kleinen Maus vernehmen würden, aber auf der Tenne bleibt alles still. Dann löst sich unter dem Bienenhaus ein Schuss. Das verirrte Geschoss ist am Ziel angekommen. Es hat den Atem in meiner Luftröhre zerfetzt, die Lungenbläschen verströmen ein Gas, das mich schwindlig macht. Ich wanke und haste hinter der Mutter her, die wie besinnungslos zum Bienenhaus rennt. Geh weg, schreit sie, geh weg von mir, aber ich bin fest entschlossen, ich möchte, wenn es denn sein muss, auch Vaters Tod in die Augen sehen.
    Wir bleiben an der Südseite des Auszugshäuschens stehen und spähen vorsichtig um die Ecke. Vater liegt unterhalb des Bienenhauses auf dem Rücken im Gras, das Gewehr schräg neben sich, als ob es ihm während des Fallens aus der Hand gerutscht wäre. Mutter greift sich ans Herz. Sie reißt sich von der Wand los und geht behutsam in Vaters Richtung. Ein paar Schritte hinter ihm bleibt sie stehen und betrachtet ihn lange, dann dreht sie sich um und kommt zurück. Er atmet, flüstert sie, er hat sich nicht erschossen, er tut nur so, als ob er tot wäre, es ist kein Blut zu sehen, keine Verletzung. Sag Großmutter, sie soll herunterkommen und Vater das Gewehr wegnehmen. Wenn ich das Gewehr angreife, könnte er auf mich losgehen, man kann nie wissen, sagt Mutter. Großmutter eilt schon mit einer Schale Weihwasser herbei, mit dem sie Vater besprenkelt. Jesus Maria, Jesus Maria, wie weit ist es mit unserer Familie gekommen, jammert sie und tastet nach dem Gewehr.
    Vater dreht sich zur Seite. Er murmelt etwas, das ich nicht verstehen kann.
    Ich wende mich von ihm ab, wie ich mich nie wieder von ihm abwenden werde. Ich spüre, dass er es auf meine Kindheit abgesehen hat, spüre, dass er eine Scharte in meinen Rücken geschlagen hat, der sich ein wenig krümmt und fürchtet, dass man ihm ansehen werde, wie er Vater verlässt und fortgeht, wenn auch nicht weit, wenn auch nicht für immer.
    * * *

Ich bin in die Kindheit eingepflanzt wie ein Holzpfahl auf einem Hof, an dem man täglich rüttelt und prüft, ob er das Rütteln wohl aushalten wird.
    Meine Gedanken sind undeutlich. Vom Kopf geht ein Rauschen aus, das auf alle Glieder übergreift, auf den Brustkorb, den ich mit Unverständnis betrachte.
    Alte Männer aus der Nachbarschaft gehen an mir vorüber mit ihren seltsamen, feuchten Augen. Ihre Blicke haften an meinen Schultern, auf meinem Gesicht. Zuweilen greift Flori nach meiner Brust, um zu prüfen, ob sich was tut. Er sagt, er wolle mich heiraten, wenn ich alt genug sein werde.
    Stefan, der seit einem Jahr auf dem Dachboden des Auszugshäuschens als Untermieter lebt, verbirgt etwas Unbeherrschtes hinter seinem geröteten Gesicht. Er säuft und riecht säuerlich nach altem Schweiß. Er hat die Gewohnheit, an den Menschen vorbeizureden, als ob er niemandem in die Augen blicken könnte und seine Sätze wie beiläufig in die Hörgänge der Angesprochenen schwindeln müsste. Er ist Holzarbeiter beim Grafen und macht sich in unserer Familie breit. Er sitzt in unserer Küche und träufelt meinem jüngsten Bruder Schnaps in

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