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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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vornüber auf den Kopf gefallen und habe seine Pistole verloren. Der Polizist hinter ihm habe geschrien: Junge, bleib stehen, bleib stehen! Aber er sei weiter gerannt wie verrückt. Dann haben die Deutschen begonnen zu schießen, furchtbar, alle auf einmal, aber ihn und Lojz habe der Berg verschluckt.
    * * *

An Tagen wie diesen verliert Vater manchmal die Fassung. Zu Beginn einer Feier wirkt er nahezu schüchtern, will in Stimmung gebracht werden, trinkt viel Most oder Wein. Die Ausgelassenheit seiner Verwandten lässt ihn Possen reißen, sie reden ihm zu, doch endlich seine Harmonika zu holen und aufzuspielen. Er musiziert hingebungsvoll, fordert die Anwesenden zum Tanzen auf und stampft den Takt mit einem Fuß in den Boden. Nach einiger Zeit verändert sich sein Blick. Ein zweites Wesen schiebt sich von innen mit dem Rücken gegen seine Augenöffnungen. Sie werden ausdruckslos, wirken wie blinde Fenster, durch die man weder nach außen noch nach innen sehen kann. Er ist gereizt, die Verwandten glauben ihn nicht mehr ernst nehmen zu können und denken ans Aufbrechen. Es sei an der Zeit zu gehen, flüstern die Verunsicherten und räuspern sich. Es sei wieder lustig gewesen, man sollte das öfters machen, weil es allen guttue, zusammenzusitzen, zu tanzen und zu singen, sagen sie.
    Sobald der letzte Gast gegangen ist, nimmt der Augengeist von Vater Besitz und tanzt mit ihm eine entfesselte Polka, schleudert ihn in alle möglichen Richtungen. Die Linkspolka wirft Vater in eine tiefe Niedergeschlagenheit, die Rechtspolka in einen wilden Zorn, der sich an kleinen Missverständnissen entzündet und sich mit durchdringenden Schreien entlädt.
    Mein Bruder und ich werden aus der Stube gewiesen und wissen vor Beklemmung nicht, was tun. Wir stehen in der Küche herum oder laufen ins Freie. Wir sind überzeugt, dass der Krieg für ein paar Tage in unser Haus gezogen ist und nicht bereit ist zu weichen.
    Wir spielen Partisanen, wenn Vater wieder einmal laut schreiend mit einem Jagdgewehr in der Hand droht, uns alle zu erschießen. Wir rennen den Hang hinauf in den Wald, kauern uns hinter die Haselsträucher, robben mit einer unsichtbaren Waffe im Anschlag den Waldrand entlang und blicken im Gras liegend auf das Elternhaus, erwägen, wann wir die Deckung verlassen und unsere Zimmer wieder aufsuchen können.
    Einmal flüchtet Mutter mit uns, was uns Sorgen bereitet, weil wir befürchten, dass sie die Aufmerksamkeit des Vaters auf unser Versteck locken könnte. Unsere klammen Lungenflügel können sich kaum bewegen. Ich blicke auf meinen Bruder und hoffe, dass er das alles nicht begreift, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Ich beobachte Vater, wie er in neuer Gestalt in den Krieg mit uns tritt, und beobachte mich, wie ich meine Körperhülle verlasse und auf mich wie auf eine Puppe hinunterblicke, die im Gras liegt und den Kopf einzieht. Auch wenn ich getroffen werden sollte, werde ich nicht sterben, denke ich, weil ich aus meinem Körper geflüchtet bin.
    Eine ruhende Gefechtsmasse, ein nicht detoniertes Geschoss hat sich aus der Vergangenheit auf unseren Hof verirrt und sucht Zuflucht unter den Zwetschkenbäumen, in unserem Wald. Wir sind die versehentlichen Ziele, die wir nie hätten sein dürfen, aber in der Hitze des Kampfes gezwungen werden, sie darzustellen.
    Sobald Vater, von einer tiefen Erschöpfung erfasst, einnickt und ihm das Gewehr aus der Hand rutscht, atmen wir auf. Mutter nimmt das Gewehr an sich und sperrt es in den Jagdschrank. Wir räumen unser Versteck und eilen geduckt an Vater vorbei, der auf die Ellenbogen gestützt schläft. Er scheint im Schlaf zu seufzen und liegt wie ein knorriger Zwetschkenstamm in der Wiese hinter dem Haus, neben der Türschwelle auf dem Boden oder auf der Eckbank in der Küche.
    Der andere Richtungstanz beginnt mit Vaters Selbstbezichtigungen, die er rhythmisch wiederholt, er sei nichts wert, er sei noch nie etwas wert gewesen, ein Hündchen sei er, das sich unter den Tisch geflüchtet habe. Komm, Hündchen, sagt er, komm unter dem Tisch hervor, komm schon, to to to to, lockt er, to to to to!
    Das Hündchen aber bewegt sich nicht, es hat sich in einer Ecke verkrochen, wie ich, die ich schon ahne, was danach kommen wird, wenn Vater das Haus verlässt. Das sei doch nicht wahr, versuche ich ihn zu beruhigen, wie könne er nur behaupten, er sei ein Hündchen, wie könne er überhaupt so was denken, sage ich und sehe meinen Satz in der Luft hängen wie einen Strich, der abgebrochen ist

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