Engel des Vergessens - Roman
Heimweg eine Mitgefangene geschenkt. Die wiederum habe es von einer Französin bekommen. Ein paar Seiten habe sie herausgerissen, aber schau, sagt Großmutter, in Prenzlau habe ich begonnen, Aufzeichnungen zu machen. Am 28. April trieben sie uns aus dem Lager, die Reise war wunderbar, liest sie vor, cudovita , weil ihr das slowenische Wort für furchtbar wieder nicht eingefallen war. Sie seien von der SS an der Front entlanggetrieben worden, Richtung Norden oder im Kreis, erzählt sie. Niemand habe gewusst, wohin. Sie könne sich an die ersten Tage kaum erinnern, da sie so schwach gewesen sei, dass sie von der Gregoricka getragen werden musste. Einmal, daran könne sie sich noch erinnern, seien sie durch einen nicht aufhören wollenden Wald gegangen, überall seien Tote und Erschöpfte gelegen, ausgebrannte Wägen, Kriegsmaterial. Die Gregoricka habe einen Schubkarren aufgetrieben, habe sie hineingesetzt und geschoben. Dann sei der 1. Mai gekommen und die SS sei verschwunden gewesen, wie in nichts aufgelöst. Ringsherum Donner und Geschützlärm. Die Frauen seien in Gruppen die Kampflinien entlanggeirrt. Ihre Gruppe habe in einem Schweinestall übernachtet. Die Russen hätten den Stall beschossen, erst als eine Frau mit dem gestreiften KZ-Gewand ins Freie trat, hätten die Russen begriffen, dass sich KZlerinnen im Stall aufhalten. Sie haben dann ein Schwein geschlachtet und Essen zubereitet für alle.
Am nächsten Tag seien sie weitergezogen, Verwüstungen überall, die Dörfer bombardiert, die Flieger seien tief über sie hinweggeflogen. In den verlassenen Häusern hätten sie nach Essbarem und nach Kleidung gesucht. Eine Frau aus Ljubljana habe ihre Gruppe angeführt, sie seien bei ihr geblieben, weil es hieß, dass die Sloweninnen als Gruppe nach Hause gebracht werden sollten. Bis Mitte August haben die Sloweninnen auf die Heimreise gewartet. Die Österreicherinnen wollten sich, gleich nachdem die Kämpfe beendet waren, nach Hause durchschlagen, sagt Großmutter.
Sobald Großmutter beginnt sich auszuziehen, fange auch ich an, meine Kleider abzulegen.
Im Unterhemd setzt sie sich aufs Bett und löst ihren dünnen, geflochtenen Haarzopf, den sie am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden hat. Ich knie mich hinter Großmutter auf das Bett und fange an, sie zu kämmen. Ihre dünnen, grauen Haare fallen ihr zwischen die Schulterblätter. Sie legt abwechselnd die linke oder die rechte Hand auf den Teil des Kopfes, den ich gerade kämme. Vorsichtig, sagt sie, vorsichtig, und manchmal, nach einem Seufzer, es sei der 13. November gewesen, als sie das Lager betreten habe. Die Frauen, die mit ihr zu Fuß durch Fürstenberg getrieben worden seien, mussten sich nach der Einlieferung ausziehen. Schon in der ersten Stunde habe es Fliegeralarm gegeben. Nackt hätten sie zwei Stunden lang warten müssen, bis man sie untersucht habe. Dann habe man ihnen die Haare geschoren. Kaum sagt sie geschoren, schiebt sie meine Hand weg, als ob ich unerlaubterweise ihr Haar berührt hätte. Mit ein paar schnellen Handgriffen flicht sie einen Zopf und fixiert ihn mit Haarklammern wieder zu einem Knoten. Sie seufzt. Sie habe sich auf einen Tisch legen müssen, sagt sie, man habe ihr eine Injektion in die Scheide gegeben, das habe unglaublich gebrannt und sei wahrscheinlich wegen der Frauensachen gewesen. Eine Frau hatte gerade ihre Tage, der sei alles die Beine hinunter geronnen. Die Männer in Uniform haben sie angeschaut wie ein Stück Vieh, sie sei ja schon älter gewesen. Die jüngeren hätten wegen ihrer Schönheit Probleme bekommen, die habe man aus dem Zwölferblock, in dem sie vier Wochen lang eingesperrt gewesen war, geholt und verstört zurückgebracht. Jeden Tag, in der Früh und am Abend zwei Stunden Appellstehen, ein Durcheinander, ein Weinen, es habe lange gedauert, bis man sie abgezählt hatte, und die abschätzigen Blicke, was man noch wert sei und für welche Arbeit man noch tauge.
Ich ertappe mich dabei, Großmutters Gestalt nach den Blicken, die sie begutachteten, abzusuchen. Ich sehe die fremden Augen sich wie ein Netz über ihren Körper breiten und überlege, ob vom Entsetzen Spuren auf der Haut geblieben sind. Aber das Grauen zeichnet sich nicht ab. Es hinterlässt keine sichtbaren Narben. Großmutters Körper sticht wie ein Knochenskelett hervor; das quer stehende Schlüsselbein, die Schultern, der hervorstehende Dornfortsatz am unteren Halswirbel, der Rippenkorb, die Oberarmknochen, über die sich die Haut wie lockere
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