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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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Gaze spannt. Sie habe keine Muskeln mehr und keine Brust, sieh, sagt sie und lüftet das Unterhemd, meine Brust ist eine große Falte. Ich blicke mit einem Auge hin, aber Großmutter verzieht den Mund und sagt, ich solle mich nicht vor einer alten Frau grausen. Sie habe in ihrem Leben viele Frauen nackt gesehen, da höre man auf, sich zu zieren. Sie habe Frauen in allen möglichen Zuständen gesehen, mein Gott, sagt sie, alte und junge, gebrechliche und geschlagene, von denen die Haut in Fetzen heruntergehangen sei, tote Frauen, die eine Haut gehabt hatten wie Papier, wie gelbliches Papier, sagt sie, man hätte sie von den Skeletten schälen können. Sie habe am Anfang die Latrinen säubern müssen, man könne sich nicht vorstellen, wie das gestunken hat. Der Geruch sei an ihr geklebt, sie konnte sich nicht einmal waschen. Angela Piskernik, die Professorin aus Eisenkappel, habe sich über ihren Gestank sehr aufgeregt, aber was hätte sie tun sollen. Dreck ist Dreck und Scheiße ist Scheiße, sagt Großmutter.
    Sie fährt mit den Händen die Oberschenkel entlang, die bis zu den Knien in einer Baumwollunterhose stecken, und versucht ihren Rücken zu strecken, indem sie sich an den Beinen abstützt. Sie bittet mich, ihr die Strümpfe auszuziehen. Ich steige aus dem Bett und ziehe die Wollstrümpfe von ihren Beinen. Am Unterschenkel zeichnet sich das Strumpfbandmuster ab, Großmutter sagt, die Beine schwellen ihr seit dem Lager stark an. Im Lager habe das angefangen mit den geschwollenen, schweren Beinen, mit den Schmerzen in den Gelenken und in den Knochen, dass sie manchmal kaum stehen könne. Ob ich die schmerzende große Zehe ansehen wolle, bittet sie. Ich beuge mich zu ihren Füßen.
    Der Nagel Ihrer großen Zehe sieht aus wie ein Malzzuckerl, sage ich, und Großmutter lacht über meinen Vergleich. Wie ein Zuckerl, sagt sie belustigt, ich habe nicht gewusst, dass ich Malzzuckerln an meinen Füßen trage! Ihre Haut unter den Knien ist bläulich, die Kapillaren schweben als Netzgeflecht über Waden und Schienbeine und überziehen die Füße mit einem Gestrüpp, das aussieht wie ein Flussdelta.
    Sollen wir, bevor wir uns hinlegen, ein paar Kekse essen, fragt Großmutter nach einer Pause.
    Ich nicke und sie holt aus der Küchenkredenz eine Dose mit Plätzchen. Am liebsten habe sie die mürben, die im Mund sofort zerfallen, sagt sie und wickelt ihre Zahnprothese aus dem Taschentuch, das sie wie immer auf dem Nachtkästchen liegen lässt. Großmutter benutzt das Gebiss nur zum Essen. Sie hat nach Großvaters Tod beschlossen, keine Zahnprothese mehr zu tragen, wozu auch, meint sie, sie werde sowieso keinen Mann mehr bekommen. Das Gebiss soll in Reichweite sein, sie trägt es oft in der Schürzentasche bei sich. Im Mund kommen ihr die dritten Zähne meist überflüssig vor, behauptet sie.
    Wenn ich ausgestreckt auf dem Bett liege und sie im Sitzen vom Lager erzählt, erwähnt sie gerne ihre Ziehtochter Mici. Ach, seufzt sie, ach, wenn du wüsstest, wie meine Mici ausgesehen hat, als ich sie auf dem Lagerplatz getroffen habe! Die Mici sei ihr um den Hals gefallen, erzählt sie, Mutter habe sie gerufen, Mutter, was machen Sie da! Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, sagt Großmutter, sie hat mir so leid getan! Die Mici habe ihr erzählt, dass sie an dem Tag, als sie von zu Hause weggegangen sei, um sich bei der Polizei in Eisenkappel zu melden, weil man sie vorgeladen hatte, beim Šertev vorbeigeschaut habe, um zu fragen, ob es nicht besser wäre, zu den Partisanen zu gehen. In der Nähe des Šertev haben die Partisanen einen Bunker gehabt, sagt Großmutter. Die Partisanen hätten gemeint, habe ihr Mici erzählt, dass sie sich keine Sorgen machen solle, die Polizei würde ihr nichts nachweisen können, sie sei noch sehr jung, und kurz vor dem Wintereinbruch zu den Partisanen zu gehen, sei für eine Frau sehr beschwerlich. Solange sie sich nicht in Lebensgefahr befinde, solle sie abwarten und ruhig bleiben. Mici habe sich daraufhin bei der Polizei gemeldet. Die habe ihr vorgehalten, dass Leute ausgesagt hätten, sie arbeite für die Partisanen. Sie habe alles abgestritten, aber das Urteil stand schon fest. Sie wurde ins Lager deportiert. Die Mici sei schmutzig und verstört gewesen, erinnert sich Großmutter. Sie habe gespürt, dass sie das Lager nicht überleben werde, dass sie sich aufgegeben hatte. An dem Tag habe sie gespürt, dass es mit ihrer Ziehtochter zu Ende gehe. Drei Monate später habe ihr Leni geschrieben,

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