Engel des Vergessens - Roman
Sieh, sagt sie und zeigt auf die Gravur auf der Rückseite des Löffelstiels, RAD , Reicharbeitsdienst. Dann taucht sie den Löffel ins Weintraubenkompott und holt ein paar Weintrauben aus dem Glas, die sie in ihren Mund gleiten lässt. Die nächste Portion ist für mich. Ich schließe die Augen und öffne den Mund. Großmutter rollt vorsichtig ein paar Weintrauben auf meine Zunge. Manchmal verschlucke ich mich dabei, weil der Löffel meinen Mund ausfüllt. Nicht so gierig, lacht Großmutter, nicht so gierig! Ihren eigenen Lagerlöffel habe sie auch mitgenommen, einen einfachen Aluminiumlöffel, den habe sie zu den Dokumenten gelegt, damit er nicht verloren gehe, als Beweisstück, sagt sie.
Ab und zu zieht sie eine graue Schachtel mit Fotografien aus der Kommode. Wo ist denn die Mici, murmelt sie, während sie in den Schwarzweißfotografien wühlt, auf denen vorwiegend Hochzeitsgesellschaften zu sehen sind. Ich betrachte die Fotos, die sie mir auf das Bett legt, mit einem Gefühl von großer Entfernung. Nur Mici ergreift mich als Kind, vielleicht auch Katrcas melancholischer Blick. Mein wirkliches Interesse gilt den Fotografien, auf denen Großmutter als Mädchen in meinem Alter zu sehen ist. Ich stelle fest, dass wir einander ähnlich sehen. Großmutter sagt nach längerem Nachdenken, vielleicht, vielleicht gleichen wir einander, sie sei sich nicht sicher. Schön ist das weiße Kleid, das Sie auf diesem Firmungsfoto tragen, sage ich anerkennend, und Großmutter streicht zärtlich mit einem Finger über ihren Mädchenkopf, den eine weiße Blütenkrone ziert. Dann beginnt sie über die schwierigste Zeit im Lager zu erzählen.
Schon zu Beginn des Jahres 45 seien immer mehr Transporte nach Ravensbrück gekommen. In den Baracken sei kein Platz mehr gewesen, die Frauen mussten zu dritt oder zu viert auf einer Pritsche schlafen. Viele Polinnen und Sloweninnen seien gekommen, viele städtische Frauen aus Frankreich, Belgien, Holland, mein Gott, diese Frauen haben um ihre Kleider und Pelze gekämpft, sagt Großmutter. Sie seien in den ersten Tagen vor dem Zugangsblock auf dem Boden gesessen und hätten ihren Augen nicht getraut. Wir sind ja schon abgestumpft gewesen, sagt Großmutter, wir hatten uns schon an vieles gewöhnt. Sie sei im Winter ganz abgemagert gewesen, es habe immer weniger zu essen gegeben, manchmal tagelang nichts. Sie habe gesehen, wie Frauen mit Lastwagen abtransportiert und dann als Leichen zurückgebracht worden seien, zum Krematorium. Im Frühjahr habe man sie bei einem Appell für die Vergasung selektiert. Mein Gott, für den Tod, da lag ich in der Typhusbaracke auf Stroh, bereit für den Abtransport ins Gas, und betete, sagt Großmutter. Plötzlich habe eine Wienerin zu ihr gesagt, wir Österreicherinnen müssen zusammenhalten! Wir Österreicherinnen müssen zusammenhalten! Die Wienerin habe ihre Lagernummer mit der Nummer einer Toten vertauscht. Sie habe ihr geraten, sich zu verstecken, also habe sie sich vor dem Abtransport ins Klo eingesperrt, erzählt Großmutter, das sei fürchterlich gewesen. Die ganze Zeit sei an der Tür gerüttelt worden. Es war nicht auszuhalten. Das würde sie nie wieder tun. Von da an sei sie nicht mehr zu den Selektionsappellen gegangen und habe sich in der Baracke unter den Stockbetten versteckt, sich mit den Schachteln, die den Frauen von zu Hause geschickt worden seien, verbarrikadieren lassen. Die letzte Zeit habe sie als Tote im Lager verbracht, illegal.
Auf deinen Weg ins Leben, sagt Großmutter zum Schluss, will ich dir etwas mitgeben: Sperre dich nie nach einer Selektion im Klo ein, teile die Pakete, solange sie von zu Hause geschickt werden, mit den anderen, passe auf die wenigen Sachen, die du besitzt, gut auf. Im Lager wird nämlich gestohlen, was das Zeug hält. Pflege guten Kontakt mit den Mitgefangenen, damit du nicht allein und ohne Hilfe stirbst.
Sobald ich ins Gymnasium komme, werde sie mich bitten, ihr dabei zu helfen, der Wienerin, die sie gerettet hat, einen Brief zu schreiben. Sie müsse nur noch ihre Adresse herausfinden und den genauen Namen, dann könnten wir den Brief aufsetzen, sagt sie. Nach der Rückkehr aus dem Lager habe sie noch Briefe geschrieben, aber später sei der Briefwechsel versiegt, und die Kontakte erlahmten.
Großmutter zieht eine Postkarte aus der Fotoschachtel. Hier, lies, sagt sie, und drängt mir die Postkarte auf. Ich lese: 9. 3. 1946, Liebe Mitzi! Besten Dank für deine lieben Zeilen, freut mich sehr, dass du so gut
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