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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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dass Micis Asche aus Lublin geschickt worden sei. Da bin ich zusammengebrochen, sagt Großmutter. Ich habe die ganze Nacht geweint. Die Frauen in der Baracke haben mir zugeredet, mich nicht gehenzulassen, denn im Lager seien tiefe Gefühle Vorboten des Todes. Die Mici ist in Lublin vergast worden, sie ist in Lublin vergast worden, wiederholt Großmutter, wie um sich die Tatsache erneut vor Augen zu führen. Von dem Tag an sei sie für den Außendienst nicht mehr zu brauchen gewesen, sie habe sich kaum auf den Beinen halten können, fährt sie fort. Aber vorher, schau, am zehnten Mai, sagt Großmutter und blättert in ihrem Lagerheft, am zehnten Mai habe ich ein Zeichen am Himmel gesehen. Ich habe meinen Bruder Miklavž, den Mann von Katrca, gesehen und habe der Katrca, die die Schwester deines Großvaters war, davon erzählt. Katrca ist zu diesem Zeitpunkt schon krank im Revier gelegen. Ich habe ihr die Erscheinung geschildert und gesagt, dass das nichts Gutes bedeute. Bald danach habe Katrca erfahren, erzählt Großmutter, dass Miklavž in Dachau umgekommen sei. Das habe ihr den Überlebenswillen genommen. Sie sagte, sie wolle ihrem Mann nachfolgen. Sie habe noch Gedichte geschrieben im Krankenbett, immer habe sie Gedichte geschrieben. Das sei sehr gefährlich gewesen. Eine Russin habe man wegen ihrer Gedichte im Bunker zu Tode geprügelt, aber Katrca habe sich gewünscht, dass man ihre Gedichte in die Freiheit mitnehme. Sie wisse nicht, ob das gelungen sei, sagt Großmutter. Sie habe Katrca besucht, immer sei sie zu ihr gegangen, auch als sie selbst auf die Krankenstation gekommen war und vierzehn Tage unter den Todgeweihten liegen musste. Die im Revier Verstorbenen habe man in der Nacht vor dem Bad gestapelt, da seien die ausgemergelten Körper gelegen, auf dem Boden, wie Holzscheite, über die man gestolpert sei. Die Katrca habe einen wunden Rücken gehabt, sagt Großmutter und ich stelle mir, auf dem Bett liegend, den Rücken von Katrca vor, der in meiner Vorstellung aussieht wie ein bemaltes Tuch, über und über mit rot schattierten Farbkreisen durchtränkt, mit welken Rosenblättern vermengt, mit eitriger Kruste bedeckt. Hinter dem Rücken meiner Großmutter liegend, auf den erzählten Rücken von Katrca starrend, schwebe ich in der Vergangenheit wie in einem Zeittropfen, der in meinem Kopf kreist.
    Großmutter atmet schwer und ringt nach Luft. Sie sei vierzehn Tage im Revier geblieben, berichtet sie, dann sei es ihr etwas besser gegangen. Im Revier hätten auch tschechische Ärztinnen gearbeitet, sie konnten Deutsch und versuchten zu helfen. Die Tschechinnen haben zusammengehalten, das habe sie gespürt. Die Blockova habe sie, nachdem sie wieder genesen war, für den Innendienst eingeteilt. Sie musste in der Häftlingsküche die großen Kessel waschen. Das habe sie am Leben gehalten, sagt Großmutter, weil sie oft Weggeworfenes stehlen und essen konnte. Sie habe, was herumgelegen sei, zur Seite geschafft und es den Mitgefangenen gebracht. Auch Katrca konnte sie immer wieder eine Rübenschale oder eine Kartoffelschale zustecken, das sei schon ein Glück gewesen, denn das Essen für die Häftlinge habe aus Abfall bestanden, den sie zu Hause den Schweinen verfüttert oder weggeworfen hätte. Die Katrca sei am 1. Juli gestorben, an einem Samstagnachmittag. Ich bin mit einem Rübenrest in der Hand ans Fenster der Krankenbaracke getreten, habe ins Innere geschaut und gesehen, dass das Lager von Katrca leer ist, sagt Großmutter. Eine Tschechin habe ihr zu verstehen gegeben, dass Katrca weggebracht worden sei. Ständig habe sie daran denken müssen und gehofft, dass es Katrca nicht ergangen war wie der Vivoda Jerci aus dem Lobnik-Graben. Die Jerci habe man lebend zu den Toten geworfen, sie jedoch habe sich aus dem Leichenhaufen befreit und sei drei Mal in den Sechserblock zurückgekrochen. Ich habe um den Tod von Katrca gebetet, sagt Großmutter, und gehofft, dass es ihr nicht ergangen ist wie der jungen Jerci aus dem oberen Lobnik.
    Wenn Großmutter die Essensrationen im Lager erwähnt, überkommt sie ein nervöser Hunger. Sie öffnet wieder die Keksdose oder nimmt ein Glas Kompott aus dem Schrank, in dem sie mehrere Einmachgläser als Trostration stehen hat.
    Stellt sie ein Glas Weintraubenkompott auf den Tisch, weiß ich, dass sie zufrieden ist mit dem Verlauf des Abends. Sie nimmt einen großen Löffel aus der Tischlade, der Lagerlöffel für die Oberen, sagt sie, den habe sie aus der Lagerküche gestohlen.

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