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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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nach Hause gekommen bist. Wie geht es dir? Bist du gesund mit deinen Kindern, weißt Du was von deinem Mann? Ich bin immer recht gesund und der Bubi ist auch recht frisch und munter, er wird im Juni schon vier Jahre alt. Liebe Mitzi! Ich bin am 13. Februar entlassen worden und am 16. Februar bin ich glücklich zu Hause gelandet. Ich war wohl sehr glücklich, dass ich dieser Bande der SS entkommen bin. Liebe Mitzi! Weißt du nichts von der Bauer Sabine, war sie dann noch bei euch? Schreibe es mir. Dann hätte ich noch eine Frage, weißt du die Adresse von Sabine Schwaiger, ich möchte ihr gerne schreiben. Lass bald was von dir hören! Deine Freundin Anna Weitlaner.
    Ich gebe die Karte an Großmutter zurück. Sie lächelt. Dann reicht sie mir einen Brief. Ich habe Mühe, die Schrift zu entziffern: 30. April 1946; Kam erst heute dazu, Ihren lieben Kartengruß zu erwidern und möchte mich auf diesem Wege herzlich bedanken. Könnt Ihr Euch noch erinnern an die vielen Stunden, die wir miteinander erleben mussten und die uns so manches Leid gebracht haben. Und dennoch wir haben es erreicht − heute sind wir freie Menschen und werden uns auch dementsprechend fühlen können! Nun, wie ist es denn Euch noch in Wesenberg ergangen? Wieso seid Ihr so spät heimgekommen? Ich bin am 10. Juli nach Graz gekommen. Was machen Sie jetzt? Betreiben Sie wieder ihren Bauernhof? Na, hoffentlich habt Ihr alles wieder zurück erhalten! Bei mir schaut die Sache noch ganz schmal aus. Von meiner Wohnung das Inventar hab ich bis dato noch nicht zurückbekommen. Haben sie noch den »schönen Mantel«? − Auch ein kleines Erinnerungsstück aus Ravensbrück. Wenn die Zugsverbindungen besser wären, wir hätten ja noch soviel zum »Keppeln«. Ich muss für heute Schluss machen und erwarte bald wieder ein Lebenszeichen von Ihnen. Und jetzt gehe ich Kaffee trinken a la »Liebespakete«? »Klauen« brauchen wir auch nicht mehr! Es grüßt Euch alle herzlichst Eure Leidensgenossin Elisse Siegl, Graz. »Clara Zetkin«. Großmutter lächelt wieder. Wer diese Zetkin sei, wisse sie nicht, sagt sie, und als ich ihr die Frage hätte beantworten können, war Großmutter nicht mehr am Leben.
    Sie legt das Lagerheft und die Briefe auf den Tisch, schaltet das Licht aus und beginnt leise zu beten. Ich drehe mich zur Seite und drücke meinen Rücken gegen ihre Rippen. Nachdem sie sich bekreuzigt hat, dreht sie sich zu mir und legt einen Arm um mich. In dieser Haltung liege sie am liebsten, sagt sie. Sie sei auch mit Großvater so aneinandergeschmiegt und mit angewinkelten Knien gelegen. Ich presse meinen Rücken gegen ihren Brustkorb und sehne mich danach, von ihr noch fester umfasst zu werden. Zuzeiten zwickt sie mich mit ihren harten Nägeln, wenn es ihr einfällt, mir zu zeigen, wie man früher Wanzen zerdrückt habe. Es habe immer einen Knacks gemacht, wenn eine Wanze geplatzt sei, aber eine Wanze komme selten allein und an Schlafen war nicht mehr zu denken, sagt Großmutter. Ich jedoch schlafe neben ihr rasch ein und öffne in der Früh verwundert die Augen. Der Platz neben mir ist leer. Großmutter ist schon aufgestanden und ins Haus geeilt. Wenn ich die Küche betreten werde, wird sie neben dem Herd stehen und sagen, dass ihr kalt sei. Dann werden wir ihren Malzkaffee trinken und schweigen, als ob wir uns in der Nacht zu nahe gekommen wären.
    * * *

Am Abend bleibt das Kind hinter dem Haus auf der Wiese stehen, am geöffneten Tor zur Nacht, die als Königspalast aufgeht über der Landschaft, mit klingendem Sterngefunkel, mit dem Atem des Waldes und dem Plätschern des Baches am Grabengrund. Es tritt in das Haus der Nacht ein und tritt aus dem Haus der Nacht wieder hinaus. Es denkt, zwischen den Zeiträumen stehend, dass es eigentlich sterben möchte, dass es genug habe vom Leben, und denkt, dass es so etwas nicht denken dürfe, und denkt, dass es aber doch sterben möchte, weil ihm das Sterben so nahe gerückt ist. Es denkt, dass es die Toten, die es wie ein klappriges Holzpferd auf Rädern hinter sich herzieht, loslassen müsste oder begraben sollte, obwohl es noch nie ein offenes Grab gesehen hat, obwohl es nur Menschen gesehen hat, die auf dem Weg dorthin waren. Es will seine Toten begraben, die ertrunkene Küchengehilfin, die Erschlagenen, Erschossenen und Aufgehängten, die unbekannten Toten aus Großmutters Erzählungen.
    Das Kind will zurück zu den unvermittelten Dingen, wo sich kein Wort zwischen es und die Welt drängte, wo nichts, was es

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