Engel des Vergessens - Roman
sagt lojza zu mir, was in unserer Sprache Dummchen bedeutet, wenn man nicht Trampel sagen will. Lojza , sagt Mutter, ich sei eine richtige lojza , ich solle aufhören zu toben, die Leute würden schon schauen.
Ich spüre Mutters Unnachgiebigkeit und werde unversehens von einer wirren Verzweiflung erfasst, ich denke, dass ich Vater nicht alleine lassen könne, ich könnte mir niemals verzeihen, wenn er sich was antäte, ich könnte nicht damit leben, dass er das wenige Geld, das er hat, für mich ausgibt. Ich will das nicht, denke ich und lasse meinen Tränen freien Lauf. Mutter sagt im gereizten Ton, komm, na komm schon, jetzt geh schon!
Als ich im Schülerheim auf dem mir zugewiesenen Bett sitze und den Schlüssel für meinen Schrank in den Händen halte, tilge ich die Spuren des Weinens. Ich beobachte die anderen Jugendlichen, die sich mit Küssen von ihren Müttern und Vätern verabschieden, und stelle fest, dass ich Mutter noch nie zum Abschied geküsst habe. Mutter schaut noch einmal ins Zimmer, sie habe alles mit der Heimleitung besprochen, sagt sie und reicht mir die Hand. Sieh zu, dass du brav bist, sagt sie zum Abschied und geht.
In der Nacht kann ich nicht schlafen. Ich komme mir vor wie eine Verräterin. Die Tränen, die sich brennend ihren Weg bahnen, wische ich in die Bettwäsche. Die Traurigkeit überkommt mich wie ein Rausch, den ich nur liegend ertrage. Ich beschließe, dieser Trunkenheit nicht mehr nachzugeben, und nehme mir vor, nicht über meine Gefühle zu reden und alles zu tun, was man von mir verlangt. Niemand soll erfahren, was ich nicht verraten will. Von mir absehen, wäre das richtige Wort.
Vorerst muss ich mich an den Nachmittagsunterricht gewöhnen, da das Gymnasium für Slowenen über kein eigenes Gebäude verfügt. Seit mehr als zehn Jahren ist es an Nachmittagen als Gast in einem anderen Schulgebäude einquartiert. Die deutschsprachigen Schüler eilen mittags nach Hause, während wir slowenischsprachigen vor dem Nebeneingang warten, um über die Garderoben im Kellerabteil die Schule betreten zu können. Das Leben im Schülerheim, das gemeinsame Warten vor der Schule, der slowenische Unterricht gliedern mich in die Gruppe ein. Ich fühle mich zugehörig und spüre, dass es schwer sein wird, sich zu verstecken.
An einem Wochenende, das ich zu Hause verbringe, beklagt Vater ein letztes Mal mein Fortgehen. In der Nacht, als wir schon im Bett liegen, reißt er uns aus dem Schlaf. Das habe Mutter davon, brüllt er im Stiegenhaus, sie habe es so haben wollen und das Mädchen in Gefahr gebracht. Wozu sei es notwendig gewesen, das Mädchen in die Schule zu schicken, was müsse man jetzt, wo in Kärnten die zweisprachigen Ortstafeln abgerissen werden, nach Klagenfurt gehen. Aber nein, sie müsse sich immer durchsetzen und mit dem Kopf durch die Wand. Er sei auch nur ein Mensch, er habe auch ein Wort mitzureden. Ich bin ein Mensch, schreit Vater auf Deutsch.
Es macht mich traurig zu spüren, dass ich der Grund für Vaters Kummer bin, das bilde ich mir jedenfalls ein und finde alles, was mich angeht, peinlich und bedrückend. Mein hochgeschossener Körper empfindet die Schnelligkeit, mit der er wächst, als unangemessen. Ich glaube auch, die ländliche Kleidung nicht mehr tragen zu können, weil ich darin noch schlechter aussehe, als mir erträglich scheint.
Mutter hat meinem störrischen Wesen den Kampf angesagt, vermute ich, weil sie mich an den Wochenenden, die ich zu Hause verbringe, immer zum Gottesdienst schickt. Sie lässt mich spüren, dass sie mich unfreiwillig aus ihrer Obhut entlassen musste, dass ich von nun an selber für mein Fortkommen verantwortlich bin, für meine Wäsche, für meine Erfolge in der Schule. Ich trage mit meinen elf Jahren eine besondere Verantwortung, weil ich das unwirtliche Zuhause verlassen durfte, lautet ihr unausgesprochener Auftrag an mich, den ich aus Trotz oder Verzweiflung annehme wie eine Bürde.
Mutter klammert sich an ihre letzte erzieherische Lebensaufgabe, deren Erfüllung sie vordringlich verfolgt. Sie glaubt, dafür sorgen zu müssen, dass ich meine Pflichten als Christin erfülle. Das fordert meinen Protest geradezu heraus, was Vater wiederum mit dem Lauf der Dinge versöhnt. Er gibt seinen Widerstand gegen die Schule auf und freundet sich mit dem Gedanken an, dass ihm die Wege der Tochter fremd bleiben werden, dass er ihnen nicht folgen wird können.
* * *
Großmutter und ich beginnen uns voneinander zu entfernen. Sie schont ihre
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