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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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Kräfte, um mit ihrer wachsenden Gebrechlichkeit zurechtzukommen, und ich gehe auf etwas zu, das verschwommen in der Zukunft liegt. Großmutter versucht nicht, mich festzuhalten, sie lässt mich auf eine eigene, bisweilen beleidigte Weise gehen. Sie wird empfindlicher und unduldsamer. Sie lässt sich, nachdem ich beschlossen habe, meine Eltern jeden Montagmorgen, bevor ich ins Schülerheim fahre, zum Abschied zu küssen, von mir eines Tages nicht mehr kosen. Sobald ich mich zu ihr beuge, wackelt sie energisch mit dem Kopf und drängt mich von sich.
    Im Sommer trage ich zu Hause das erste Mal einen Bikini. Großmutter holt, als sie mich darin erblickt, ihre Gusseisenpfanne und räuchert mich mit dem bitteren Duft der Weidenzweige ein. Sie ist zornig und aufgebracht. Ich ziehe mich rasch an und suche sie in ihrer Kammer auf, um sie zu besänftigen. Den Arsch und das Geld dürfe man nicht herzeigen, sagt Großmutter. Eine junge Frau müsse wissen, was ihr steht, sagt sie und zieht aus der untersten Schublade der Kommode ein dunkelblaues Satinkostüm. Dieses Kleid habe ihre Mici zur Hochzeit des Onkels getragen. Sie habe darin sehr elegant ausgesehen, sagt Großmutter und blickt mich vorwurfsvoll an. Eine Frau müsse sich immer mit einem Blumensträußchen oder mit einer Brosche schmücken. Sie habe, wenn sie in die Kirche gegangen sei, immer einen kleinen Nelkenstrauß getragen, mit Rosenkraut und Zitronenkraut zu einem duftenden Bouquet gebunden. Das rieche gut und wirke festlich. Im trockenen Zustand in den Schrank gelegt, halte es auch die Motten fern, behauptet sie.
    In der geöffneten Lade der Kommode kommen alte, gelbliche Wachskerzen und schön verzierte silberfarbene Kerzenhalter, ein hölzernes, schwarz lackiertes Kruzifix mit einem Sockel sowie weiße, mit liturgischen Motiven bestickte Tücher und Laken zum Vorschein. Zu meiner Zeit, sagt Großmutter, musste die Braut neben der Bettwäsche auch die Todeswäsche als Mitgift mitbringen, damit der neue Haushalt mit allem Notwendigen ausgestattet war. Sie habe kürzlich ihre Aufbahrungswäsche bereitgelegt und habe übrigens noch einen Rat für mich. Du darfst dir nie, wenn du deine Tage hast, Papier oder etwas Ähnliches in die Scheide stopfen, sagt sie. Im Lager habe eine polnische Ärztin die Frauen in ihrem Block ermahnt, das nicht zu tun, weil ein paar Frauen daran zugrunde gegangen seien, dass sie sich verschmutztes Zeitungspapier eingeführt hätten. Das habe sie mir schon die längste Zeit sagen wollen. Aber da ich nur noch selten nach Hause komme, hat sich die Gelegenheit dazu nicht ergeben, sagt Großmutter. Dieses Gespräch beendet die Vertrautheit zwischen uns. Wir kommen uns nicht mehr nahe, weil sie sich in ihr Wenigerwerden zurückzieht.
    An den Wochenenden, die ich zu Hause verbringe, höre ich, wie Großmutter Vater die Verästelungen unserer Verwandtschaft erklärt und ihn korrigiert, wenn er einmal die Cousinen und Cousins zweiten Grades mit denen ersten Grades durcheinanderbringt. Sie zählt alle nachbarlichen Anwesen mit den ehemals dort ansässigen Menschen auf, die das Lager überlebt haben oder in den Lagern ums Leben gekommen sind. Sie zeichnet die Anwesen auf ohne Schrift, flicht ein feines Netz von Hof zu Hof, zieht die Namen über den Hügeln zusammen, ein eigentümliches Geflecht, eine verborgene Nachbarschaft der Überwältigten.
    Im Lepena-Graben nennt Großmutter die Dimnik-Hube, den Knolic, den Šertev, den Gobanc, den Hirtl, den Gregoric, den Auprich, den Hojnik, den Skutl, die Hrevelnik-Keusche, den Winkel, den Kožel, den Peternel, den ¢emer, den Blajs, den Kokež, den Potocnik, den Oberen Mozgan, im Remschenig-Graben den Kach, den Makež, den Papež, den ¢rnokruh, die Struz-Keusche, den Šopar, den Ponovcar, die Tonov-Hube, im Lobnik-Graben den Vivoda, den Breck, den Topicnik, den Mikej, den Stopar, den Wölfl, den Tavcman, in Ebriach die Peruc-Keusche, den Jereb, den Pegrin, die Pegrin-Keusche, den Smrtnik, den Šajdnik, den Urh, in Vellach den Šein, den Kristan, den Podpesnik und die Vejnik-Keusche. Die Namen der Lager hängen an den Umgebrachten und Überlebenden wie kleine Beschriftungstäfelchen und verblassen mit den mittlerweile Verstorbenen. Sie verschwinden mit den Höfen und Huben, werden von Gras und Gestrüpp überwuchert, unsichtbar, kaum noch Spur, kaum ein Schutthaufen, kaum noch ein modernder Holzschopf, ein verwachsener Weg.
    Der Tod dreht wie immer seine jährlichen Runden. Er schaut einer jungen

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