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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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Die Nachricht von Großmutters Tod werde erst morgen den Großteil der Verwandten erreichen, überlegt Tonci, der die Aufgabe übernommen hat, alle zu benachrichtigen.
    In der Früh werden die ersten Kränze geliefert, die im Wohnzimmer hinter dem Sarg an die Wand gelehnt werden. Vor dem Frühstück trete ich zur Verstorbenen. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, als hätte sie die Nacht über geschlafen wie wir, als sei sie gerade erst hingeschieden. Auf der Holzbank, neben dem Sarg sitzt Mimi, eine Nachbarin, und starrt unverwandt auf die Tote. Über ihre Wangen rollen in langsamer Abfolge erbsengroße, runde Tränen, die vom Kinn auf ihre Hände tropfen. Mimis kräftige Hände, die mit ihrem stämmigen Körper eine Einheit bilden, sind mir, seit ich sie kenne, aufgefallen. Ich habe deine Großmutter in der Baracke gefunden, als sie gerade hinter den Schachteln, hinter denen sie sich versteckt hielt, hervorgekrochen kam, sagt Mimi. Sie hat so elend ausgesehen, dass ich sie kaum erkannt habe. Für ein paar Augenblicke scheinen Mimis Tränen rascher zu tropfen. Sie sei aus dem Jugendlager Uckermark nach Ravensbrück überstellt worden, man habe ihr gesagt, sie solle in die Sechserbaracke gehen, da seien lauter Politische. Da habe sie meine Großmutter angetroffen und andere Nachbarinnen, mit denen sie sich dann auf den Heimweg gemacht habe. Sie seien gemeinsam nach Hause gekommen, erzählt Mimi. Ich weiß, sage ich, Großmutter hat es mir erzählt. Mimi wischt sich Augen und Wangen mit einem Taschentuch ab und nimmt die frühere Haltung wieder ein.
    Ich gehe in die Küche, aus der die Stimmen der anderen zu hören sind. Leni serviert Kaffee und redet auf Vater ein, dass er sich doch über ein weiteres Mädchen in der Familie freuen solle, denn die Häuser, in denen Mädchen aufwachsen, seien immer bevölkert, da werde es einem nie langweilig, da kommen Burschen ins Haus, da bleibe man nicht lange allein. Mädchen bringen Glück, sagt sie. Vater lächelt gequält und tunkt den Reindling in den Kaffee. Ich möchte auch, fährt Leni fort, dass du deine Kinder in die Schule schickst, ich möchte, wenn ich so weit bin wie deine Mutter und ins Grab hinuntergelassen werde, dass Studierte an meinem Grab stehen, verstehst du! Man muss die jungen Leute ausbilden, sie etwas lernen lassen! Ist schon gut, Tante, sagt Vater. Er wirkt für einen Moment wie ein junger Bub, der von seiner Mutter gerügt wird, und scheint tatsächlich den Kopf einzuziehen.
    Ich finde das Gespräch kurzweilig und wünsche mir insgeheim, dass Leni mit ihrer Predigt fortfährt. Tatsächlich sagt sie nach einer Pause, so kannst du doch nicht weitermachen, Zdravko, du kannst doch nicht ewig ans Sterben denken. Du musst aufhören damit! Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man nicht mehr weiterleben will, aber du wirst ja alle um dich kaputtmachen. Vater wird blass. Er steht auf und stellt seinen Kaffee auf die heiße Herdplatte.
    Nicht einmal beim Frühstück wird man in Ruhe gelassen, sagt er und geht. Leni dreht sich zu Bica, die das Gespräch mitgehört hat, und fragt, habe ich recht, ich habe doch recht, oder? Bica nickt. Nach einer Zeit sagt sie, meine Tochter hat aber auch Schuld. Was muss sie so abweisend sein und ihren Mann gegen sich aufbringen.
    Am Vormittag sind die Frauen in der Küche beschäftigt. Für die Totenwächter wird Reindling gebacken, und der Brotofen im Aufbahrungszimmer verströmt so viel Hitze, dass man die Fenster offen hält, damit die Wärme im Raum nicht den Verwesungsvorgang der Verstorbenen beschleunigt. Während des Tages werden wir von ihr angezogen und glauben, uns an der Bahre nützlich machen zu müssen. Die brennenden Kerzen werden kontrolliert, das Kerzenwachs entfernt, die Dochte beschnitten, die an der Wand lehnenden Blumenkränze gesichert, das Totentuch mit dem schwarzweißen Spitzensaum glatt gestrichen, das Wasser in den Blumenvasen ausgetauscht, das Weihwasser in den Schälchen nachgefüllt. Die Tote ist unser liebliches Kind, das umsorgt und für die Gäste geschmückt werden muss.
    Mutter bittet mich, mein Zimmer für Verwandte zur Verfügung zu stellen. Vielleicht wolle jemand über Nacht bleiben, man müsse ein paar zusätzliche Schlafplätze bereithalten, meint sie. Ich sage, ich könnte in Großmutters Bett schlafen, und denke mir nichts dabei.
    Gegen Abend beginnen die erwarteten Totenbeter in die Wohnstube zu strömen. Diejenigen, die in der Stube keinen Platz zum Sitzen finden, stehen im

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