Engel des Vergessens - Roman
Nachbarin beim Erhängen zu, deren Selbstmord alle bestürzt wie kaum einer zuvor. Wieder eine zu früh gegangen, heißt es, wieder eine abgerutscht, abgestürzt, nach hinten gefallen, während sich die Lebenden am Leben festklammern und nicht in die Tiefe blicken wollen, die sie schwindlig macht. Großmutter meint, jetzt sei es an der Zeit zu gehen. Sie nutzt den Aufschub, den ihr der Tod gewährt, wie sie sagt, um mit Bekannten zusammenzusitzen und zu reden. Sie lacht mit der Knolic Malka, die noch rötere Wangen bekommt, wenn sie sich mit Großmutter an die geglückte Heimkehr aus Ravensbrück erinnert, und lässt sich von Tonci zu den Schwägerinnen fahren. Das Kopftuch um die Schultern gelegt, sitzt sie mit den Schwägerinnen in deren neuen Wohnküchen, die sie stolz herzeigen, und atmet schwer und legt ihre knochigen, mit einer dünnen, fleckigen Haut überzogenen Hände in den Schoß. Ihr Kopf ist kleiner geworden, Nase und Kinn ragen aus dem Schädel hervor wie zwei spitze Erhebungen. Großmutter sieht aus wie ein Konzentrat ihrer selbst. Sie wird von einem Knochengerüst aufrecht gehalten, das ihren dünnen Atem beherbergt. Jetzt ist sie am Ziel angelangt, sagt sie, jetzt sehe sie endlich aus wie eine KZ-Frau.
* * *
Im Schülerheim habe ich meinen Rückzugsraum in der slowenischen Studienbibliothek gefunden, die im Erdgeschoss des Gebäudes untergebracht ist. Ich halte mich nahezu täglich dort auf. Die Angst um Vater und die Erzählungen der Großmutter formen sich zu einer von mir sorgsam gehüteten Gedankenwelt, die ein Geheimnis in sich birgt, das Geheimnis der Bedrohtheit des Menschen. Ich glaube über dieses Geheimnis nicht reden zu können, weil ich spüre, dass es ein heikles Mysterium ist, weil ich zu wissen meine, dass das Sprechen meine Unbeholfenheit aufdecken könnte, meine Ängste, die meine Intimität ausmachen, die der Kern meiner Intimität sind.
Ich gehe durch die Schule der Minderheitenfeststellung in Kärnten und begreife die Aussage der Parole, die auf den Plakaten prangt: Wähle Deutsch, wenn du kein Slowene sein willst! Das Slowenische ist also etwas Unerwünschtes im Land, denke ich und entscheide mich für das öffentlich Geringgeschätzte, weil es in meinen Augen und in den Augen der Menschen, mit denen ich lebe, eine Bedeutung hat und weil ich das erste Mal begreife, was mit dem Wort Zugehörigkeit gemeint sein könnte.
Ich bin zur Gruppe angewachsen und träume einen Traum, in dem ich in der ersten Reihe einer Prozession von Slowenen gehe. Ich kenne die Menschen, aber sie scheinen mich nicht zu sehen, obwohl ich nackt bin. Im Moment, in dem ich meine Nacktheit bemerke, denke ich, es kann mir nichts mehr geschehen, weil ich tot bin, niemand kann mir etwas anhaben, denn ich bin unsichtbar geworden.
Der nächtlichen Unsichtbarkeit zum Trotz spielt mir der Körper einen Streich. Er scheint inwendig unablässig gegen mich zu arbeiten. Er vervielfältigt sich unterhäutig, setzt sich fort, strebt und gärt dahin. Er kann nicht aufhören zu wachsen, er kann nicht aufhören, auf sich aufmerksam zu machen, obwohl ich verschwinden möchte. Mein Körper nähert sich mir hinterrücks und klopft unerwartet bei mir an. Er will hereingelassen werden, will, dass ich mich ihm öffne, aber ich denke noch nicht daran. Manchmal kommt er als kleine Zehe zum Vorschein oder glotzt mich mit meinen Muttermalen an, ragt als Brustwarze aus mir oder bewegt sich als behaarte Schnecke im Schritt. Er nörgelt auf meiner Schulter oder hockt in meinem Nacken, wie ich mir selbst im Nacken sitze und mit dem Kopf in meinen Schädel vorstoße, mich nach oben versteige, zur Sprache.
Ich bin übervoll von Sprache, von den slowenischen Wortgebilden, die ich von mir abgebe ins Leere, weil ich nichts mit ihnen anzufangen weiß. Sätze umgeben mich wie eine Dunstwolke, die aus den Büchern zu mir aufgestiegen ist. Sätze wie unverdaute Wortmoleküle, die sich frei bewegen, die ich ausatmen kann, die ich aus meiner Lunge wieder hinaustransportieren kann. Sätze als Membran, mit der ich alles fernhalte, was vielleicht berührt werden könnte oder gesagt werden müsste, aber nicht von mir. Ich bin, wie man sagt, eine Lustige, die sich maskiert, um von der Melancholie abzulenken, die in mich gefahren ist und sich ausbreitet in mir. Monatelang fühle ich mich wie ein in seiner Häutung erstarrtes Tier, dem die abzustreifende Haut über dem Kopf stecken geblieben ist und nicht entfernt werden kann. Ich könnte zuschlagen,
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