Engel des Vergessens - Roman
wenn jemand in meine Nähe käme, nur ahne ich nichts davon.
* * *
Von dem Tag an, da Großmutter das Bett nicht mehr verlassen kann, herrscht auf unserem Hof ein Ausnahmezustand. Es ist tiefster Winter. Mutter hat gerade ihr fünftes Kind zur Welt gebracht, ein Mädchen, das Vater nicht als eigenes Kind anerkennen will. Ich bin darüber sehr empört, kann aber Vater mit meiner Entrüstung nicht beeindrucken.
Abwechselnd kommen die zweite Großmutter, die ich Bica nenne, und Leni, eine Schwester meines Großvaters, auf den Hof, um auszuhelfen. Großmutter klagt über Atemnot, ihr Herz wolle nicht mehr, sagt sie. Im Februar lässt sie den Pfarrer für die Letzte Ölung holen. Ihre Wangen sind eingefallen, die Haut gibt endgültig und vorbehaltlos den Knochenformen nach. Wir wissen, dass Nachbarn und Verwandte, die wie zufällig vorbeischauen, kommen, um sich von ihr zu verabschieden. Vater ist tageweise mit Schneeräumen beschäftigt, weil es in diesem Februar nicht aufhören will zu schneien. Dann schlägt das Wetter plötzlich um, es wird wärmer, der Schnee taut ungewöhnlich rasch. Ende März ist der Boden aufgetrocknet, nur in den abgelegenen Winkeln und Schattenlöchern liegen noch dünne Schneereste, wie um die Luft mit einem Hauch winterlicher Kälte zu würzen.
Der Unterricht im Gymnasium findet mittlerweile am Vormittag statt, weil die Politik sich endlich dazu hatte durchringen können, ein entsprechendes Schulgebäude errichten zu lassen.
An einem Vormittag Mitte März werde ich aus der Klasse geholt. Man teilt mir mit, dass meine Großmutter gestorben sei. Obwohl ich darauf gefasst bin, schrecke ich auf. Ich sehe mich mehrmals nacheinander aufspringen und innerlich emporschnellen. Auf der Heimfahrt im Bus denke ich nur an mein Erschrecken.
Großmutter ist schon aufgebahrt, als ich am späten Nachmittag zu Hause eintreffe. Sie liegt etwas erhöht unter einem nach Süden gerichteten Wohnzimmerfenster. Das improvisierte Gerüst, auf dem der Sarg steht, ist mit ihren Todeslaken bespannt. Sie werden durch Mutters Tücher ergänzt, deren Stickereien an der Front der Bahre prangen. Vor dem Sarg ist wie üblich ein Tischchen aufgestellt, mit den silbernen Kerzenhaltern, dem schwarzen Kruzifix und zwei Gefäßen mit Weihwasser zum Segnen der Toten. Neben Großmutters Haupt stehen zwei weitere Kerzenhalter mit Kerzen, die erst am Abend angezündet werden. Großmutters Körper ist festlich gekleidet. Sie trägt ein schwarzes Kostüm und ein silberfarbenes Kopftuch. Ihre erbleichten Hände ragen auf dem Brustkorb gefaltet und mit einem Rosenkranz umwickelt in die Höhe.
Ich trete zum Sarg und lege meine Hand auf ihre kühlen, starren Finger. Durch meine Tränen beobachte ich ihr Gesicht, das in seiner Kargheit sehr klar ist. Ich blicke auf Großmutters Körper wie auf ein verschlossenes Haus und möchte mich bemerkbar machen, möchte sie rufen, aber ich bleibe unverrichteter Dinge im Leben zurück. Während ich weine, tritt Großmutter als Fortgegangene in mich ein. Sie greift in meinen Gedanken nach dem Rechen, der an der Hauswand lehnt, und beginnt, das gerade gemähte Gras unter der Linde vor unserer Haustür zu häufen. Sie will mich überreden, einem Gast, der Bauernspeck von ihr kaufen möchte, ein paar Steine in den mitgebrachten Rucksack zu schwindeln, damit er was zu tragen habe. Sie klopft mir mit ihren langen Fingern auf den Scheitel und sagt, wir vertragen uns doch, oder?
Vater sitzt mit tränenblitzenden Augen auf der Ofenbank. Leni läuft geschäftig aus der Küche in die Speisekammer und zurück. Sie erweckt den Eindruck, als hätte sie die Hauswirtschaft übernommen, wie sie es schon einmal getan hat, nachdem Großmutter verhaftet worden war.
Die ersten Trauergäste treffen ein. Die Wohnstube füllt sich langsam, die Vorbeter knien neben der Bahre und stützen sich mit den Ellenbogen auf die Holzbank. Das Totengebet beginnt wie ein chorisches Raunen, wie ein monotoner Singsang.
Ich habe Zeit, mich an die Tote im Haus zu gewöhnen. Mutter arbeitet noch im Stall, und die kleine Schwester schläft im Obergeschoss über der Aufgebahrten im Kinderwagen.
In den Gebetspausen werden heißer Tee, gekochter Most und Reindling gereicht. Aus den großen Töpfen in der Küche, die Tante Leni und Bica beaufsichtigen, raucht es und dampft es. Vater und Tonci möchten in dieser Nacht Totenwache halten, wir anderen sollten uns schlafen legen, weil am folgenden Tag ein Andrang der Totenbeter zu erwarten sei.
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