Engel des Vergessens - Roman
Flur oder in der offenen Tür und versuchen, während sie den Vorbetern nachbeten, mit gestreckten Köpfen die Verstorbene im Blick zu behalten. Das Trauerhaus braust auf vom Murmeln der sich um den Leichnam drängenden Menschen. Die Stimmung ist bedrückt. Es hat den Anschein, als brüte jeder der Anwesenden etwas in seinem Inneren aus, das aussieht wie Trauer um die Tote, in Wahrheit aber eine lange unterdrückte Empfindung ist, ein Gefühlsknoten, der nach Auflösung verlangt. Ich überlege, ob die Weinenden nicht doch auch um sich selber weinten. Die Aufgebahrte ermöglicht es ihnen zu klagen, ohne aufzufallen, Trauer zu zeigen, ohne sich lächerlich zu machen.
In den Gebetspausen verteile ich Tee und Gebäck.
Später, nachdem sich der Großteil der Totenwächter verabschiedet hat, nehmen ein paar Beharrliche in der Küche Platz. Sie bereiten sich auf die nächtliche Totenwache vor und trinken Kaffee.
Ich gehe ins Auszugshäuschen, lege mich in Großmutters Bett und schlafe mit einem innigen Gefühl sofort ein. Nach Mitternacht fahre ich erschrocken auf. Mit einemmal wird mir klar, dass ich in einem Totenbett schlafe. Die anfängliche Vertrautheit verflüchtigt sich augenblicklich. Ich überlege, aus dem Bett zu springen, weil ich spüre, dass ich den anstürmenden Ängsten nicht gewachsen bin. Die Todesahnungen stürzen auf mich ein, das Starre, das Matte, das Aas, das Wort Hinüber, die wilde See mit dem toten Werk des Schiffes, die schwarzen Segel über dem toten Wasser, der tot gebrannte Kalkstein, zu viel, es aushalten zu können. Durch das Fenster sehe ich die Küche im Haupthaus hell beleuchtet und die Wohnstube erhellt vom warmen Lichtschein der Kerzen. Ich ziehe mich an und trete ins Freie. Die Nacht ist klar, der Himmel von Wolken leergefegt, mit funkelnden, deutlichen Sternen. Unter dem Haus stehen drei Männer mit dem Rücken zu mir und pinkeln. Sie reden miteinander und hören mich nicht kommen. Beim Nähertreten erkenne ich Vater, der eine Zigarette im Mundwinkel hält. Stanko erzählt gerade, dass er, wenn er in der Nacht eine Zigarette glimmen sehe, einen Leuchtkäfer fliegen oder auch nur jemanden ein Zündholz anzünden sehe, immer erschrecke, da er an die Partisanen denken müsse, die im Dunklen geraucht haben. Plötzlich sind sie in der Nacht hinter seinem Elternhaus oder hinter seinem Rücken gestanden. Die kleinen Glimmzeichen waren für ihn ein Signal, dass es wieder ernst werden könnte, dass es wieder heißen könnte, einen Verwundeten zu versorgen oder Lebensmittel zur Verfügung zu stellen.
Tja, sagt Vater und spuckt aus, gehst du mit uns noch hinein?
Nein, antwortet Stanko. Er werde jetzt nach Hause gehen und die friedliche Nacht bestaunen. Er verabschiedet sich, nicht ohne mir zu sagen, dass ich wahrscheinlich auch so eine sei, die die Leute erschrecke.
Vater holt Most aus dem Keller und betritt mit mir und Sveršina die Küche. Ich könne in Großmutters Bett nicht schlafen, erkläre ich mein Wachsein. Die Stimmung in der Küche ist aufgelockert. Cyril sitzt mit Leni hinter dem Tisch und reibt sich die Hände, weil er beim Kartenspiel gewonnen hat. Aus meinem Zimmer über der Küche dringt lautes Schnarchen. Das ist meine Frau, sagt Cyril, sie liege in meinem Bett. Zu Hause schnarche sie so laut, dass man sie bis auf die Straße hören könne. Sveršina rückt hinter den Tisch und sagt, da Zdravko nicht Schnapsen dürfe, möchte er die Gelegenheit nutzen und Leni fragen, wie es damals war, als sie die hiesige Wirtschaft übernommen hat. Das kann auch ich dir erzählen, sagt Vater. Was willst du schon erzählen, unterbricht ihn Leni, du warst doch so durcheinander, als wir dir sagten, dass deine Mutter verhaftet worden ist, dass du dich vor meinem Haus auf den Boden geworfen und Gras gegessen hast. Kannst du dich noch erinnern, fragt Leni. Vater verneint. Na eben! Eine Woche nach deiner Marter verhaften sie deine Mutter, das war zu viel für dich. Ich sehe dich noch als zehnjährigen Buben, sagt Leni, ich weiß, wie du von Krämpfen gebeutelt wurdest.
Ich werde hellwach. Was ist passiert, frage ich. Na, aufgehängt haben sie ihn, sagt Leni. Wen, will ich wissen. Deinen Vater, sagt sie. Wieso, frage ich, weil mir nichts anderes einfällt. Erzähl doch, sagt Leni zu Vater, dem es plötzlich unangenehm ist. Er kratzt sich am Kopf und sagt, sie wollten halt wissen, ob Großvater zu den Partisanen gegangen ist und ob er hin und wieder nach Hause kommt, das war alles. Was alles,
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