Engel des Vergessens - Roman
überwintern, scheint mir, und ich bin zu erschöpft, ihn abzuweisen.
In der Nacht träume ich, dass ich von zu Hause fliehe. Ich warte auf einen Zug, der mit sehr viel Verspätung den Berg herabfährt, und erwische gerade noch den letzten Waggon. Ich lege mich bäuchlings auf das Dach des letzten Abteils, damit wir schneller den steilen Berghang hinauffahren können, denn der Mann, der mich nicht gehen lassen will, hat sich unter dem Berggipfel auf die Lauer gelegt und will mich aus dem fahrenden Zug zerren. In unserem Haus hat er ein Blutbad angerichtet. Er hat alle Kinder erschlagen und ihnen die Hälse durchtrennt. Auch mein Vater darf mich nicht sehen, er darf nichts wissen von mir. Ich sehe ihn unter mir im Inneren des Abteils in einem Krankenbett liegen und habe Angst, dass er aus dem Spitalsbett fallen könnte. Er ist ganz klein und sehr zart.
* * *
Die Reisen zwischen Wien und meinem Heimatort entwickeln sich zu Zeitexpeditionen, zu Fahrten durch unterschiedliche Zeitläufe und Geschichtsvarianten, die nebeneinander existieren. Je näher ich meinem Heimatort komme, desto mehr habe ich das Gefühl, in die Vergangenheit zu reisen, und je weiter ich mich von ihm entferne, desto rascher beschleunigen sich Stunden und Tage. In diesem Hin und Her nehme ich mich als eine durch die Zeiten Geschleuderte, als eine aus der Zukunft Gefallene oder als verspätet Angekommene wahr.
Vaters Hilferufe verwandeln sich, seit ich studiere, in gesellschaftliche, ja, auch in politische. Ich beginne in öffentlichen Zusammenhängen zu denken. Bin mir sicher, dass es die Haltung zur Vergangenheit in diesem Lande mit sich bringt, dass unsere Familiengeschichten so befremdlich erscheinen und sich in solcher Verlassenheit und Isolation vollziehen. Sie stehen in nahezu keiner Verbindung zur Gegenwart. Zwischen der behaupteten und der tatsächlichen Geschichte Österreichs erstreckt sich ein Niemandsland, in dem man verloren gehen kann. Ich sehe mich zwischen einem dunklen, vergessenen Kellerabteil des Hauses Österreich und seinen hellen, reich ausgestatteten Räumlichkeiten hin- und herpendeln. Niemand in den hellen Räumen scheint zu ahnen oder vermag es sich vorzustellen, dass es in diesem Gebäude Menschen gibt, die von der Politik in den Vergangenheitskeller gesperrt worden sind, wo sie von ihren eigenen Erinnerungen attackiert und vergiftet werden.
In einer slowenischen Anthologie finde ich unvermutet zwei Gedichte von Katrca Miklav, der Schwester meines Großvaters, die aus dem Konzentrationslager gerettet worden sind, und bin seltsam berührt. Als ob sich ein bislang vergessener Erinnerungsfötus in meinen Gedanken bewegt hätte. Ich erschrecke darüber, dass er existiert. In den Anmerkungen lese ich, dass Katrca drei Tage vor ihrem Tod ein paar Gedichte auf kleine Zettelchen geschrieben hatte und sie an eine Mitgefangene aus Eisenkappel, Angela Piskernik, übergab, von der sie glaubte, dass sie die Gedichtzeilen schätzen würde, weil sie das geschriebene Wort achtete. Angela habe die Gedichte nach dem Krieg in einer slowenischen Kulturzeitschrift veröffentlicht. So seien sie erhalten geblieben, steht geschrieben.
Nach mehreren Veröffentlichungen in Zeitschriften soll ein erster Lyrikband von mir erscheinen. Ich kann es kaum glauben: ein Buch, das meine slowenischen Gedichte zu etwas Verwegenem bündeln, das meinem Studentendasein eine neue Richtung geben könnte. Es würde mich zu mehr Klarheit zwingen, zu mehr Genauigkeit, hoffe ich. Es würde das Verschwinden der slowenischen Sprache in Kärnten hinauszögern, denke ich enthusiastisch, die Illusion erwecken, dass diese Sprache noch immer eine Funktion habe.
Kulturpolitische Überlegungen fallen mir leichter, als in meinen Texten Ich zu sagen. Mein Ich sagt nicht Ich. Es bespielt seine eigene Bühne. Es spricht in verschlüsselten Sprachen, es ist verborgen unter alten und neuen Kostümierungen, es probiert wahllos Sprachkleider aus, die ihm gefallen oder brauchbar erscheinen auf der Suche nach seinem wahren Gesicht. Es stöbert im Fundus der Erklärungen und Bedeutungen.
Beharrlich übe ich mich darin, wenigstens den Ton meiner Gedanken zu hören, ihn unter der Vielzahl anderer Töne zu erkennen. Kaum nehme ich ihn wahr, geht er verloren, weil er zu schwach ist, weil er untergeht im Stimmengewirr, in den Bemühungen, meine Gestalt zusammenzuraffen.
In der Überzeugung, den Ton gleichwohl vernommen zu haben, komme ich nicht mehr von ihm los, suche unentwegt die
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