Engel des Vergessens - Roman
sich mir quer vor die Füße legen und meine Fragen unbeantwortet lassen. Sie wird ungerührt bleiben. Die Pfade der Landschaft werden sich als ein einziges Hindernis auf dem Weg zu ihr erweisen. Sie werden sich selbst widersprechen und in die Gegenrichtung laufen, wo sie zur Mitte gelangen sollten. Die Gegend wird keine ebene Linie zulassen, nur ineinander verkeilte Schrägen, Aufwerfungen, die sich um einen höheren Gipfel anordnen werden. Die Waldlehnen im Graben werden sich als ein ineinandergeschobener Widerspruch zu erkennen geben und alle Himmelsrichtungen unterlaufen. Sobald ich glauben werde, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, werde ich in die Irre gehen. Ich werde auf die Anhöhen steigen müssen, um meine Irrwege zu überblicken. Hoch oben, unter dem freien Himmel, werde ich das Durcheinander in der Tiefe entwirren können. Ich werde begreifen, dass sich die Landschaft verbirgt und nicht enträtselt werden will, dass sie die Ungeduldigen verschlingt und unverdaut ausspuckt, sobald sie Entgegenkommen und Lieblichkeit von ihr erwarten.
Manchmal, nach einem längeren Fußmarsch durch einen steilen, verwachsenen Wald, wird mich der Landstrich mit ungeahnten Aussichten beschenken, die das Gebiet lieblich und freundlich erscheinen lassen werden. Schroffe Abhänge werden sanfter wirken, die Kanten der Gegend werden abgeschwächt und gerundet sein. Eine unverhoffte Weite wird meinen Blick aufnehmen und ihn über den Talgräben kreisen lassen, die engen Schluchten schwerelos und schwindelfrei überqueren lassen. Von solchen Aussichtsstellen werde ich die schroffe weiße Felswand der Košuta im Westen, am Übergang zur Ebene, sehen können. Das Weiß des Berges wird sich am längsten gegen die dunkleren grünblauen Farbtöne der beginnenden Ebene behaupten. Im südlichen, hellblauen Himmel wird sich das Meer spiegeln, als ob das Firmament mit einem Auge die Adria betrachte und das andere über den Gräben schließe.
Sobald ich die Gegend verlassen werde, werden meine Blicke durchsetzt sein mit spitzen Gräsern und Gewächsen, verwuchert vom Gestrüpp und zu guter Letzt ermüdet vom ständigen Äugen nach dem Himmel, dem einzigen Orientierungspunkt. Ich werde mich nach dem Weggang wie eine Besucherin fühlen, die nach einem üppigen Fest von der Natur auf die Straße gesetzt worden ist und widerwillig davoneilt, weil ihr die satte Landschaft im Magen liegt.
Die Unterseite des Landstrichs, seine dunkle Spiegelung, wird mein Fluchtort werden, der nächtliche Ort, der alles verschlingen und aufnehmen wird, was ich je betreten habe, die Avenuen, die Städte, die Busse, die Eisenbahnen, die Flugzeuge. Er wird alles nach innen häufen und ins Vergessen werfen. Hochhäuser werden mitten aus den Wiesen wachsen und in den Himmel steigen, Theaterbühnen werden in den Berg gebaut werden und von Wäldern umgeben sein. Das Meer wird sich meinem Haus nähern und in der Tiefe verharren. Der Himmel wird ein Schiebedach sein und viele Nächte werden sich an seinem Firmament aus der Dunkelheit heben.
Die Landschaft, in der ich in diesem Sommer Unterschlupf finden werde, wird in den kräftigsten Farben strahlen. Das Licht wird über den Hügeln fluten, die Luft wird flirren. Meine Augen werden mit Falkenschärfe auf das Tal gerichtet sein. Ich werde den Landstrich mit den Wärmeströmen meiner Kopfhaut ertasten, die Gegend mit geheimen Sensoren erspüren. Über das Hochtal wird eine Gruppe von Männern schreiten. Sie werden in den Berg gehen, in dem eine Eisenbahn verkehren wird, die sie zu ihren Arbeitsplätzen fahren wird, oder in die Stadt, die in den Tiefen des Berges surren wird. Mit dem Bruder werde ich vor meiner Haustür in eine Tramway einsteigen und nach Frankreich fahren. In der Talsenke hinter meinem Haus werde ich noch einmal zusteigen und mich allen Fahrgästen vorstellen. Es wird Abend sein, wenn wir in der Provence ankommen und einen Turm betreten werden. Draußen werden goldene Weizenfelder wogen und mit hellgrünem Gras bewachsene Anhöhen. Der Himmel wird dunkelrot sein, samtig schwarz. Warum wird das Weizenfeld leuchten?
* * *
Großvaters Schwester, Leni, hat die Erinnerungen an ihre Zeit bei den Partisanen auf ein Tonband gesprochen. Die Aufzeichnung des Gesprächs erscheint, ins Deutsche übersetzt, als Buch. Es soll in Wien, im Staatssekretariat für Frauenfragen, vorgestellt werden. Für meine Verwandten ist das ein seltener Anlass, in die Hauptstadt zu kommen. Vater beschließt, seine Cousinen und
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