Engel des Vergessens - Roman
Noch versuche ich in der Landschaft Trost zu finden, einen Lebensort in ihr aufzuspüren, der mich nicht bedroht. Ich hoffe, ihr im Laufe vieler Sommer unter die Haut zu geraten, ihre Geheimnisse zu entdecken, damit ich nicht mit leeren Händen und mit nichts als meiner Haut davonkomme.
Wie könnte ich den Schauplatz meiner Kindheit an mich ziehen? Wie mir seine Formen vergegenwärtigen? Sollte ich damit beginnen, dass der Talgraben als Landschaftssackgasse entworfen worden ist, in der die Wege und Straßen an einem toten Punkt auslaufen? Behaupten, dass er aussieht wie ein nach oben hin offener Strumpf, der zwischen die Hügel gepresst wurde, um sie auseinanderzuhalten? Feststellen, dass alle Abhänge in eine Talsohle, die von einem Bach und einer Straße markiert ist, hinuntersacken? Dass der Graben versucht, seiner Enge etwas Weite abzutrotzen, dass es ihm an manchen Stellen sogar gelingt, einen Abschnitt mit ebenen Wiesen und Äckern auszupolstern? Aber die Wiesen müssen sich gleich wieder der Verengung anpassen und sich an den nächsten Steilhang schmiegen. Alles Weitläufige hat sich aus dieser Landschaft zurückgezogen.
Vom Bachwasser breitet sich ein kalter Lufthauch aus. Die Kälte wird von den flächigen Blättern des Alpendosts in die Landschaft gefächert. Sie steigt zu den Wiesenrainen auf und schwebt über den Mischwäldern. Über der Waldgrenze schimmert das Gestein unter einer dünnen Humusschicht hervor, wie die Knochen eines Gebirgsskeletts, die von Schneelawinen in die Tiefe geschoben worden sind. Über den Wäldern kreisen Bussarde, Habichte und Adler. Vereinzelt und unerwartet tauchen sie aus der Waldstille auf, gleiten über die Talgräben, ziehen ihre Kreise und entschwinden in unsichtbaren Geländerissen. Selten fallen sie im Sturzflug zu Boden, um sich eine Beute zu greifen. Sie haben keine Eile, die Beute ist ihnen gewiss, da sie in die Enge getrieben worden ist.
Die Menschen haben ihre Anwesen an ebenen Stellen über den Abhängen errichtet. Immer wieder fand sich eine Wiesenschaukel, ein flacher Standort, auf dem sich mehrere Gebäude und Gärten ausbreiten konnten. An Frühlingstagen scheinen sich die Hänge gegen die Menschen aufzulehnen, die auf ihnen herumgehen. Im Hochsommer jedoch breiten sich vor den Gehöften Licht und Wärmeteppiche aus, die eine unwiderstehliche Sogkraft entwickeln und die Bewohner regelrecht an sich ziehen. Man sieht sie vereinzelt oder in Gruppen im Gras oder vor ihren Häusern sitzen, am Ackerrain liegen, der Sonne hingegeben, von Hitze ermattet. Sie drehen die Köpfe in alle Himmelsrichtungen und haben Augen für die sie umgebenden Anhöhen und Wälder, für die Farbschattierungen in den Senken und an den Buckeln des Grabens. Mit dem aufkommenden Herbst erstarrt die Landschaft. Aus den Senken steigt wieder die vertraute Kühle. Ortsfremd klaffen nur die aufgelassenen Stollen in den Wäldern mit ihren kleinen Mundlöchern über den Halden, die von Gebüsch überwachsen sind. Manche von ihnen sind noch befahrbar, unter Schutzfelsen gelegen, Käfige aus Stein.
Ich denke an Großmutter, wie sie jeden Morgen die Landschaft in Augenschein genommen hat, an Vaters Blicke, die zuerst den Himmel begutachteten, den Stand der Sonne und des Mondes feststellten und sich dann erst dem Boden zuwandten. Der Zustand der Natur wurde täglich mit den Augen betastet. Heute sei es an der Zeit zu ernten, zu pflügen, hieß es, heute sei der Boden so weit und die Luft warm genug, sagte Vater. Die Wolkengebilde, das Abendlicht und das Schreien des Kauzes künden ein Unglück an, prophezeite Großmutter. Ihre geheime Landschaft wurde mit eigenen Namen markiert, das alte Weizenfeld, der aufgelassene Kartoffelacker, die Kastaniensenke, der Fischlaichplatz, der Sonnenstein, der Tropffelsen, der Teufelsrachen, der Geistergupf, die Lilienwiese, der Nelkenhang, die Schafgarbenweide. Die der Sonne zugewandten Wiesen und Hänge hatten Lichtnamen und die schattseitigen Kuppen und Plätze Schattennamen, die in keiner Landkarte verzeichnet sind. Die Waldsteige führen an Todesorten vorbei, hier wurde Fritz von einem Ast erschlagen, wusste Großmutter, hier habe der Blitz drei Männer verkohlt, auf der Donnerlichtung neben der Todesbuche am Bach, die schreienden Mädchen unter der Posetquelle, wo die Toten herumgehen und klagen, der Wilde Graben, wo man den Totenkopf fand.
Die Landschaft meiner Kindheit wird mich trotz meiner Anstrengungen, ihr nahezukommen, in die Irre führen. Sie wird
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