Engel des Vergessens - Roman
Jahreszahlen nennen. Mächtige Kirche, sagt er und setzt sich auf einen Sessel vor dem Marienaltar im Seitenschiff. Ich mache einen Rundgang durch die Kirche. Als ich zurückkomme, wartet Vater vor dem Ausgang auf mich. Gehen wir, sagt er, er möchte noch was trinken. Das Gedränge auf dem Stephansplatz irritiert ihn. Er hält Ausschau nach einem ruhigeren Ort, und wir finden am Graben ein Stehcafé, das Vater nicht zu verunsichern scheint. Er bestellt einen weißen Spritzer und zieht sein Sakko aus. Nach dem ersten Schluck krempelt er die Hemdsärmel auf und fingert nach den Zigaretten. Willst du auch eine, fragt er. Mir fällt plötzlich der Kanister ein. Wo hast du den Kanister gelassen, frage ich. Neben dem Marienaltar. Ich habe gedacht, dass die heilige Maria auch von meinem Most kosten möchte, sagt Vater und grinst.
Ich habe Lust, die Zigarette zu rauchen. Gib mir eine, sage ich, und Vater zündet mir die erste Zigarette an. Seit wann rauchst du, fragt er. Seit jetzt, lüge ich und denke an den Kanister im Stephansdom. Vater macht eine schnelle Handbewegung, und die Zigarettenasche, die er vergessen hatte abzustreifen, fällt auf seine Hose. Ich sehe, dass die Hose an einer Stelle geflickt ist, und beeile mich, bevor ich erneut beginne mich zu ärgern, mir einzureden, dass die geflickte Hose keine Bedeutung habe, dass ich mich auf das Wesentliche konzentrieren muss, auf den ersten Spaziergang mit Vater durch Wien. Vater erzählt, dass die Frauenstaatssekretärin sie sehr freundlich empfangen und ganz kämpferisch geredet habe. Die traut sich was, sagt er anerkennend, in Kärnten wäre das nicht möglich gewesen. Ich frage, ob er schon im Buch geblättert habe, wohl wissend, dass er kein Buch liest. Auch meinen Lyrikband hat er ungeöffnet in den Schrank gelegt. Ja, ja, sagt er, da sei auch ein Foto von ihm abgedruckt, aber lesen werde er das Buch nicht, obwohl Leni auch ihn erwähne. Die Bücher erzählen nicht immer die Wahrheit, sagt er, sie erzählen ausgedachte Geschichten. Er aber sei an der Wahrheit interessiert, an dem, was wirklich geschehen ist.
Er bestellt noch zwei Spritzer und steht lächelnd, sich mit einer Hand locker an der Hüfte abstützend und mit der anderen Hand die Zigarette hochhaltend, am Stehtisch, während der Kellner die Getränke serviert. Für eine kurze Zeit scheint alles möglich zu sein.
Vater erzählt, dass die Zwetschkenbäume gut tragen und dass er hoffe, einen feinen Schnaps brennen zu können. Er habe schon überlegt, schöne Flaschen für den besten Tropfen zu besorgen, damit er ihn verkaufen könnte, aber er sei noch am Überlegen. Außerdem habe er ein paar Schafe erworben, erzählt er, weil er vorhabe, nur noch zwei Kühe zu behalten. Alles andere rechne sich nicht mehr, zu viel Arbeit, zu viele Komplikationen. Er vermag es sich nicht zu erklären, warum er trotz Schufterei kaum leben könne. Alles werde zugrunde gehen, sagt er und lächelt. Alles. Er verschränkt die Arme und lässt die Zigarette zwischen seinen Fingern, die er um den Oberarm gelegt hatte, weiterglimmen. Dann fällt ihm ein, dass sich sein Bruder Tonci daran erinnern kann, den Tavcman Jurij damals nach seiner Verhaftung, bevor er nach Klagenfurt und später nach Wien in das Landesgericht zum Köpfen gebracht worden sei, auf dem Marktplatz in Eisenkappel gesehen zu haben. Die Polizei habe ihn gerade aus dem Gefängnis auf die Straße gezerrt. Er habe ein weißes Hemd getragen mit offenem Kragen und habe den umstehenden Menschen angedeutet, dass er umgebracht werden solle. Das sei allen in die Knochen gefahren, da habe man gespürt, es gebe kein Zurück, sagt Vater.
Ich könnte dir, wenn ich nach Hause komme, die Haare schneiden, sage ich hastig.
Aber nur, wenn ich will, antwortet Vater und blickt aufmerksam auf die Passanten, die an den Auslagefenstern vorübergehen. Er hat es nicht eilig, zu seinen Verwandten zu kommen.
Gefällt es dir in Wien, will er plötzlich wissen. Ja, sage ich und weiß nicht, ob ich anfangen sollte zu erzählen. Ich deute nur an, dass ich mich wahrscheinlich bald aus der Stadt verabschieden werde. Aha, sagt Vater. Wir müssen wohl gehen, was meinst du? Gehen wir, sage ich und reiche ihm sein Sakko.
In der Nacht schildert mir Vater, dass sein Kopf ein Schmelzofen geworden sei. Er koche den Kopfschmerz wie einen Stein zu Flüssigkeit, aber nicht mit Hitze, sondern mit kalter Geduld. Sein Hinterhaupt hat einen Aufsatz bekommen, einen zweiten Schädel, der sich über den
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