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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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Cousins zu begleiten. Es ist das erste Mal, dass er die Hauptstadt sieht. Ich soll ihn beim Wiener Landesgericht abholen, weil die Reisegruppe nach der Buchvorstellung die Hinrichtungsstätte der ersten dreizehn Todesopfer aus Zell Pfarre und aus den Eisenkappler Gräben besuchen möchte, die vom Präsidenten des Volksgerichtshofs Freisler persönlich zum Tode verurteilt worden sind.
    Als ich in der Landesgerichtsstraße aus der Straßenbahn steige, sehe ich die kleine Gruppe vor dem riesigen Eingang des Gerichtsgebäudes stehen und auf mich warten. Ich winke ihnen zu. Sie überqueren rasch die große Kreuzung, aber Vater bleibt, nachdem die Fußgängerampel auf Rot schaltet, in der Mitte der mehrspurigen Straße stehen und kann nicht mehr vor und zurück. Die anfahrenden Autos hupen und drängen sich an ihm vorbei. Ich eile ihm zu Hilfe.
    Vater zittert, als ich seine Hand ergreife. Komm schnell, sage ich.
    Ich kann nicht, lächelt er und erwacht erst aus seiner Starre, als die Fußgängerampel auf Grün schaltet. Wien ist nichts für mich, seufzt er auf dem Trottoir stehend, geht alles viel zu schnell. Warum er nicht weitergegangen sei, will Michi wissen, und Vater zuckt mit den Schultern. In der linken Hand hält er einen weißen Plastikkanister.
    Was trägst du mit dir herum, frage ich. Most, sagt Vater. Er habe zur Feier zehn Liter Most mitgebracht und trage den Kanister unnützerweise schon den halben Tag bei sich, aber ihn einfach irgendwo abzustellen, finde er auch nicht gescheit.
    Ich mache den Vorschlag, die Verwandten bis zur Ringstraße zu begleiten und dann mit Vater in die Innenstadt zu gehen, um ihm den Stephansdom und den Michaelerplatz zu zeigen, wo sich das Institut für Theaterwissenschaften befindet.
    Wir schlendern am neuen Institutsgebäude vorbei zur Universität. Ich zeichne mit ausgestreckter Hand den Verlauf der Ringstraße nach, weise auf das Parlament, das Rathaus, die so genannte Burg und sage, schaut, in dieses Theater gehe ich oft. Schön, schön, sagt Michi, aber Vater meint, ihn würde man nicht in ein so herrschaftliches Haus bekommen, nein, keine zehn Pferde würden ihn da hinein schleifen können. Das feudale Universitätsgebäude wirst du auch betreten müssen, wenn ich den Doktor mache, sage ich. Nein, entgegnet Vater, er werde hier draußen mit dem Traktor auf mich warten. Lachend verabreden wir einen Treffpunkt bei der Staatsoper.
    Ich gehe allein mit Vater weiter. Auf dem Heldenplatz bleibt er unter dem Denkmal des Erzherzogs Karl stehen und richtet sich ein wenig auf, als ob er die Augen aus dem Unterhof der Stirn ins Licht heben wollte. In seinem graugrünen, alten Anzug wirkt er wie jemand, der sich versehentlich in die Stadt verirrt hat. Seine braune Krawatte ist auffällig grün und orange gemustert. Der Kragen des weißen Hemdes hat sich verbogen und ragt mit einer Spitze nach oben. Ich versuche ihn wie beiläufig hinunterzudrücken, aber er stellt sich gleich wieder auf. Vater hat die Hose, die ihm zu weit ist, mit einem Gürtel festgezogen, dass sie am Bund Falten wirft. Sein eingefallener Brustkorb füllt schon lange kein Sakko mehr aus. Seine Haare sind zwar kurz, aber im Nacken ausgewachsen. Ich ertappe mich dabei, die Mängel an Vaters Erscheinung Mutter zuzuschreiben. Wie kann sie ihn nur so gehen lassen, denke ich und bin es gleichzeitig leid, zu erwarten, dass Mutter auf ihn wie auf einen kleinen Jungen achtgebe. Vater kommt es nie in den Sinn, etwas Neues für sich zu kaufen. Schon das Anprobieren der Kleidungsstücke im Geschäft wäre für ihn eine viel zu große Überwindung. Die Blicke der Verkäuferinnen verunsichern und behelligen ihn auf eine unzumutbare Weise. Er fühlt sich schutzlos und auf sich und seine jämmerliche Erscheinung, wie er findet, zurückgeworfen. Vaters Verlorenheit in der Stadt beunruhigt mich. Man könnte ihn sofort übersehen, denke ich, aber sobald man ihn anspräche, fühlte man sich für ihn verantwortlich, würde man reflexartig nach ihm Ausschau halten, ob er ja nicht in die Irre gehe.
    Unter der Michaelerkuppel weise ich nicht ohne Stolz auf den Treppenaufgang zum Institut für Theaterwissenschaften. Ich sage, ich studiere ein imperiales Fach, und er fragt, was ist imperial. Kaiserlich, sage ich, und er entgegnet, Kaiserin auf dem Misthaufen, und schmunzelt. Wir gehen über den Kohlmarkt und den Graben zum Stephansdom, Vater ist sichtlich beeindruckt. Er fragt, wann die Kirche erbaut worden sei, und lässt sich von mir ein paar

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