Engel des Vergessens - Roman
Schülerin zu Hause verbringe, öffne ich ihre Kleiderschränke, um in der Duftwoge zu stehen, die aus ihren Kleidern strömt. Ich betaste ihre Unterwäsche und ihre Strümpfe, begutachte die bestickten Tischtücher, Taschentücher und Polsterbezüge, die sie in einer Kommode aufbewahrt wie eine Dornenprinzessin ihren geheimen Schatz. Ich buhle um ihre Anerkennung, aber sie sagt, wenn ich sie darauf anspreche, dass sich die getane Arbeit selber lobe und nicht besonders hervorgehoben werden müsse. Manchmal, wenn wir uns anschreien, beendet sie die Auseinandersetzung mit den Worten, dass sie nicht einsehe, warum sie herzlicher zu ihren Kindern sein sollte, zu ihr sei in diesem Haus niemand liebevoll und aufmerksam gewesen. Nachdem ich mich damit abgefunden habe, dass Vater an Mutters Verhärtung schuld ist, belange ich Mutter nicht weiter mit meinen Geschichten. Obwohl wir uns während der Studienzeit monatlich Briefe schreiben und sie mir immer erzählt, was sie gerade macht und was es zu Hause Neues gibt, erwärmt sich unser Verhältnis nicht, weil mich Mutter insgeheim um meine Freiheit beneidet, sie bewundert und verdammt und weil sie mir vorwirft, für Vater zu viel Verständnis aufzubringen. Sie hört auf, mich zu fragen, wie es mir gehe.
Mit meinem Fortgang nach Wien beginnt sie Literatur zu lesen und legt ihre katholischen Schauermärchen zur Seite. Sie liest historische Romane, Reiseberichte, Bücher über den Zweiten Weltkrieg, aber auch Tolstoi, Flaubert, Lipuš und Handke. Ich probiere gerade moderne Literatur aus, die mir ein Rätsel ist, schreibt sie in einem Brief, aber ich möchte es wenigstens versucht haben. Sie konnte ja nicht in die Schule gehen, aber es hätte sie alles interessiert, schreibt sie. Sie beginnt selber Gedichte zu schreiben und legt mir in den Ferien ihre gereimten Texte zum Korrigieren vor. Sie ist der Meinung, dass man sich im Leben zusammenreißen und Geschichten mit gutem Ausgang erzählen müsse. Vor allem das Moralische habe im Vordergrund zu stehen, denn wo käme man hin, wenn man den Menschen nicht zeigte, wie es gehen könnte.
Als Großmutter noch lebte, konnte Mutter kaum von sich erzählen. Sie saß neben den Erzählern und wurde nie gefragt. Die Geschichte ihrer Familie galt als unerheblich, ihrer Mutter sei während des Krieges nichts Gröberes zugestoßen, hieß es, sie musste zwar, nachdem ihr Mann bei der Wehrmacht gefallen war, als Tagelöhnerin ihre Kinder allein durchbringen, aber das sei nichts Außergewöhnliches gewesen. In der slowenischen Klosterschule, wo Mutter einen einjährigen Haushaltslehrgang besuchen konnte, hat man ihr eingebläut, nur keusche und gottesfürchtige Texte zu lesen und nicht nach den Werken lüsterner Dichter zu greifen. Ein junges Mädchen könnte durch eine solche Lektüre verdorben werden, hieß es. Sie solle sich hüten, die slowenische Wochenzeitung Slovenski vestnik zu lesen, da sie der katholischen Kirche missfalle, weil sie die Partisanentraditionen hochhalte. Eine slowenische Kärntnerin solle nach Möglichkeit ein Kopftuch tragen und keine Filme mit Errol Flynn sehen. Die wenigsten Schülerinnen dürften sich daran gehalten haben, nur Mutter wollte aus ihrem Leben ein katholisches Schaustück formen.
Von Anfang an schien alles schiefzugehen, sie blieb zwar keusch, aber nicht standhaft genug, sie hielt sich an die Bestimmung, den ersten Mann zu heiraten, der ihr nahegekommen war, aber die Wirklichkeit der Ehe hielt ihren Erwartungen nicht stand. Auch die Kinder fingen an, kaum waren sie dem Babyalter entwachsen, ihren eigenen Kopf zu behaupten, was Mutter erzürnte und ernüchterte. Sie hielt sich an das Gebot der Sparsamkeit und Genügsamkeit und fand nichts dabei, den Moden nicht folgen zu können. Da in unserem Haushalt das Geld für die Anschaffung eines Autos fehlte und Mutter sowieso fand, dass ein schnelles Fahrzeug Vater gefährden könnte, gab sie sich mit einem Moped zufrieden und fuhr damit zur Kirche, zu Einkäufen, auf Ausflüge und Besuche. Sie und ihr Moped wurden ein unzertrennliches Paar und manchmal, wenn ich sie absteigen sah, schien mir, sie hole sich mit ihren Fahrten die verlorene Jugend zurück. Ihre Augen blitzten, ihre gebräunten, kräftigen Hände strotzten vor Tatendrang. Sie wirkte wie ein tollkühnes Mädchen, das in uns Kindern Plagegeister und in Vater einen Versager sah.
Nun ist Mutter entschlossen, ein letztes Gefecht mit mir auszutragen, weil sie unbewusst spürt, dass ich ohne Halt bin.
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