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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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ersten schiebt und mit einem Pflaster an den unteren Schläfen befestigt ist. Ich überlege, ob ich Vater auf seinen Doppelkopf aufmerksam machen sollte, aber dann wendet er mir das Alltagsgesicht zu. Nur nichts sagen, denke ich, ihn nur nicht verunsichern, sonst fällt ihm der Kopf ab. Er würde es nicht überleben.
    In der zweiten Nacht hat Vater einen Erstickungsanfall. Er sagt, die Luft habe sich in seinem Hirn eingeschlossen. Es gehe ihm der Sauerstoff aus. Ich lagere ihn seitlich auf dem Boden und schiebe eine Hand unter seine Schläfe. Im Halbschlaf phantasiere ich, dass der Schmerz über Vaters Hirnbalken hell zu glitzern beginnt und sich langsam verfärbt. Die Schmerzkristalle ranken sich an den Gehirnfurchen entlang und bilden einen Schmerzschaum, der entschlossen ist, jede Nervenzelle seines Körpers zu befallen. Am Siedepunkt geht dem Schmerz endlich die Kraft aus, er kommt zur Ruhe. Später, wenn sich sein Strahlen erhärten wird, werde ich ihn aus dem Zellgewebe entfernen, denke ich oder träume ich, werde ich den Kristallblutklumpen, den kupferfarbenen Schwamm aus Vaters Gehirn kratzen.
    * * *

Der Abschied aus Wien ist abrupt. Da mein Stipendium ausläuft, beschließe ich, die Dissertation in Kärnten zu Ende zu schreiben. Nach der Heimkehr bringe ich mein Geschirr und die wenigen Einrichtungsgegenstände, die ich mir angeschafft habe, auf dem Dachboden des Elternhauses unter, in der Hoffnung, sie bald woanders aufstellen zu können. Die Grabenfalle schnappt wieder zu.
    Mutter verfolgt mit meinem Wechsel nach Kärnten einen eigenen Plan. Sie findet, dass es an der Zeit sei, dass ich die Verantwortung für die Familie übernehme. Sie könnte als Putzfrau in Klagenfurt arbeiten und ein neues Leben beginnen, sagt sie. Sie habe lange genug in der Ehe ausgeharrt, aber irgendwann müsse Schluss sein. Detailreich wie immer schildert sie Vaters Ausfälle, wie um mir die Beweggründe für ihr Fortgehen noch einmal zu erklären. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, in die Schule zu gehen, jetzt müsse ich bereit sein, den Preis dafür zu zahlen, folgert sie. Sie tritt, sobald wir allein sind, als gramvolle Rachegöttin an mich heran. Ich träume jahrelang nur von Schlangen, sagt sie, Nattern und Vipern, wohin ich schaue. Ich werde von ihnen verfolgt und beschlichen. Sie haben schon Nester in mir gebaut. Ich kann das Gift, das mein Mann über mich geschüttet hat, nicht mehr loswerden, sagt sie. Sie bewirft mich geradezu mit ihrer Verzweiflung, Verbitterung und Wut, um mich zum Nachgeben zu bringen. Ich glaube in ihrem Plan einen Anschlag auf mich zu erkennen. In den Nächten fahre ich beunruhigt in meinem Bett auf und kämpfe mit Gefühlen, die vorgeben, erwachsen zu sein, sich jedoch benehmen, als wären sie bedürftig wie ein Kleinkind. Schattenkämpfe. Gespenster der Ursuppe, die mich anfallen. Ich weiß nicht mehr, was ich abzuwehren versuche, fühle mich bedroht, weiß nicht, wohin mit meiner Erregung. Wie konnte es so weit kommen? Warum sieht Mutter in mir eine Gegnerin?
    Mutter war in meiner Kindheit ungestüm, immer ein wenig gehetzt und zornig, obwohl sie ihr inneres Beben, das Vater und Großmutter galt, verbergen konnte. Manchmal hörte ich sie schluchzen, viel öfter singen, und ihre ferne und nahe Stimme hörte sich wie meine eigene an, als ob das Schluchzen und das Singen aus mir kämen und Mutter mit meinem Körper sprechen würde. Ihre Gefühle waren unser Geheimnis. Mit meinem Eintritt in die Schule verebbten ihre Gefühlsäußerungen und ihr Weinen. Sie zog sich in ihre Arbeit zurück, in ihre Vorstellungswelt, die in der Überzeugung gipfelte, dass man sein Schicksal als Stigma auf sich nehmen müsse. Sie erzählte mir einmal, dass die Muttergottes sie vor der Ehe mit meinem Vater gewarnt habe. Während eines Gebets hatte sie bemerkt, dass die Marienstatue weine. Von da an habe sie geahnt, dass sie einen Fehler mache, aber für einen Rückzug war es bereits zu spät. Mutter scheint in den Märtyrergeschichten und in den Lebensbeschreibungen der Stigmatisierten mit ihren Wundmalen aufzugehen. Ihre Sinnlichkeit, die sie zu unterdrücken versucht, bahnt sich eigene Wege nach außen. Sie hat die Angewohnheit, sehr laut und unpassend zu lachen, in der Kirche nahezu schrill zu singen und geräuschvoll zu husten. Ich will nicht einsehen, dass sie sich in aller Öffentlichkeit unkontrolliert gebärdet, während sie von uns Disziplin und Unauffälligkeit verlangt. An den Wochenenden, die ich als

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