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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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Sie setzt alles auf die Mutterkarte und verliert, weil sie in Wirklichkeit nie und nimmer rachsüchtig sein möchte. Sie lässt vom Plan, nach Klagenfurt zu ziehen, ab und gibt mir daran die Schuld. Ich solle mir bewusst sein, sagt sie, dass sie nur wegen mir im Elend zurückbleiben werde.
    Vater zeigt mir im Gegensatz zur Mutter seine Sympathie. Wenn ich ihn in Gesellschaft antreffe und er, wie es heißt, über den Durst getrunken hat, sagt er laut, beinahe ausrufend, damit es jeder hören kann, das ist die meinige, die hab ich gern! Er hat seit unserer Traktorfahrt durch die eisige Winternacht den Hitlergruß zu unserer geheimen, nahezu intimen Begrüßungsformel auserkoren. Wenn er gute Laune hat, begrüßt er mich mit Heil Hitler und freut sich diebisch über die Blicke der Umstehenden. Er lässt sich von mir die Haare schneiden und setzt sich, sobald er glaubt, dass es wieder an der Zeit sei, auf einen Sessel vor die Haustür, legt ein Handtuch um die Schultern und schmunzelt zufrieden, wenn ich seine dünnen Haare zwischen die Finger nehme.
    Seine Erschöpfungszustände machen sich stärker bemerkbar. Seit er bei einem Arbeitsunfall im Wald das linke Auge beinahe verloren hätte, häufen sich seine Verletzungen. Er schneidet sich mit der Säge in den Zeigefinger, er hackt sich mit der Axt ins Bein. Er möchte seinen wilden, geschmeidigen Arbeitsrhythmus beibehalten und leidet darunter, nicht mehr genug Kraft und Ausdauer dafür zu haben. Ein Lungenemphysem wird diagnostiziert, das er verleugnet, weil er nicht aufhören möchte zu rauchen. Das Rauchen sei sein Lebenselixier, behauptet er. Es ergehe ihm manchmal noch heute so wie damals im Wald, als er nach einer mehrtägigen Flucht durch den Schnee so hungrig und erschöpft gewesen ist, dass ihm die Mitkämpfer trockene Blätter zum Rauchen gaben. Das habe ihn wieder aufgerichtet, das werde er sich nicht nehmen lassen. Sein einziges Entgegenkommen der Krankheit gegenüber zeigt sich darin, dass er beschließt, Filterzigaretten zu rauchen. Das werde den Verlauf der Krankheit ein wenig aufhalten, glaubt er.
    In meinen Nachtort zieht der Krieg ein.
    Riesige Lastkraftwagen patrouillieren auf unserer Zufahrtsstraße. Rettungswagen fahren mit lautem Sirenengeheul zwischen einem fernen Krankenhaus und dem unsichtbaren Schlachtfeld hin und her. Das Haus auf der Hochebene ist verschwunden. Ich bin obdachlos geworden und irre in der Kindheitsgegend herum, in die ich verbannt worden bin.
    Am Tag halte ich mich hartnäckig an meinen Versen und an den wissenschaftlichen Sätzen fest.
    In der Nacht hole ich Mutter mit einem Segelschiff aus Libyen ab, wo sie auf Kur ist. Die See ist stürmisch und gefährlich. Als wir mit dem Schiff anlegen, sehe ich Mutter auf einem goldenen, mit Edelsteinen verzierten Thron sitzen und warten. Sie hat Fieber bekommen. Es geht ihr schlechter als je zuvor. Ich mache mir große Sorgen um sie.
    * * *

Das offizielle Österreich gedenkt im so genannten Gedenkjahr des Anschlusses Österreichs an das ›Dritte Reich‹ vor fünfzig Jahren und zahlt eine Wiedergutmachungsprämie von 5000 Schilling an die noch lebenden Opfer des Nationalsozialismus.
    Peter, Vaters Cousin, macht ihn bei einem Besuch auf die Prämie aufmerksam. Er solle sich bewusst sein, auch ein Opfer der Nazis gewesen zu sein, sagt er.
    Was ist das, ein Opfer, fragt Vater, als hätte man ihm mit diesem Wort einen heißen Erdapfel zugeworfen, den er so schnell wie möglich fallen lassen will. Er habe dieses Theater satt, meint er, er sei damals, nach dem Krieg ein paar Mal mit seiner Mutter nach Klagenfurt gefahren, um vor Gericht auszusagen, dass er von dem Polizisten gequält und malträtiert worden sei. Der Schläger sei vor ihm gesessen und man habe ihn gefragt, ob er ihn kenne. Der Polizist habe ihn angeschaut, und er habe nichts gesagt. Er wisse nicht, warum. Er habe einfach nichts herausgebracht und sich gedacht, soll ihn der Teufel holen, ich sage nichts!
    Ich blicke Vater verdutzt an. Was hätte es schon genutzt, sagt er, um meine Betretenheit zu zerstreuen.
    Als Vater die Prämie überwiesen wird, nutzt er einen Augenblick, in dem wir allein in der Küche sind, und flüstert mir zu, dass er dieses Geld nur für sich ausgeben möchte. Wozu habe er gelitten! Um das Geld Mutter zu überlassen, damit sie es für den Haushalt ausgebe? Er möchte, dass ich, die ich mittlerweile einen Führerschein habe, ihn mit dem Auto meines Bruders nach Prevalje zum Zahnarzt fahre, weil er

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