Engel im Schacht
einen Termin. Ihr müßt mich entschuldigen.«
Camilla fuhr im Aufzug mit mir nach unten. »Gib meinem Bruder einen dicken Kuß, wenn du ihn das nächste Mal siehst.«
Ich grinste. »Worauf du dich verlassen kannst.«
»Ich wollte sagen, von mir. Bis dann, Vic.«
Auf meinem Weg zurück ins Pulteney kaufte ich mir schnell einen Bagel mit Schweizer Käse. Ich hatte eigentlich vorgehabt, Phoebe wegen einer Beschäftigungsmöglichkeit für Ken Graham zu fragen, aber meine Verärgerung über ihre Forderungen hatte mich das Problem völlig vergessen lassen. Ich schaute mit finsterem Gesicht in den Spiegel über der Theke in dem Sandwichladen. Ich hatte einfach den Verstand verloren. Noch vor zehn Jahren, vielleicht sogar vor fünf, hätte ich Darraugh und Phoebe gesagt, sie sollten sich zum Teufel scheren. Aber das drohende Mittelalter dämpfte meine Risikofreudigkeit. Dieser neue Zug an mir gefiel mir gar nicht.
Als ich wieder im Pulteney war, legte ich eine Akte für das Lamia'-Projekt an und gab die Daten pflichtschuldig in den Arbeitsspeicher meines Computers ein. In den letzten zehn Jahren hatte ich Hunderte solcher Jobs erledigt. Ich konnte das fast im Schlaf, aber das bedeutete nicht, daß es deswegen schneller ging. Im Gegenteil: Die Tatsache, daß mich die Tätigkeit anödete, machte mich langsamer.
Ich betrachtete den Bildschirm ein paar Minuten mit gerunzelter Stirn, als erschiene dadurch ein vollendeter Bericht auf seiner glänzenden Oberfläche. Mit bekümmertem Seufzen rief ich Lexis auf, die allwissende juristische Datenbank, und bekam eine Liste der Direktoren und leitenden Angestellten der Century Bank. Während diese Liste ausgedruckt wurde, befragte ich den Dow Jones News Service wegen Informationen zu Century. Im Elektronikzeitalter wäre die Sekretärinnenausbildung für einen Privatdetektiv viel nützlicher als mein Jurastudium und die Jahre bei der Pflichtverteidigung.
Century ist eine winzige Bank in Uptown, die nur selten in der Zeitung erwähnt wird. Sie feierte in diesem Jahr ihr hundertjähriges Bestehen: Sie war 1892 im Rahmen des »Century of Progress« - des Jahrhunderts des Fortschritts - gegründet worden und machte sich jetzt für ein zweites Jahrhundert bereit. In der Sun-Times fand ich ein Foto von den Feierlichkeiten - wenn ich bereit war, eine geringe Gebühr zu entrichten, konnte ich es mir ausdrucken lassen. Ich nahm das Angebot nicht an. Berichten des Herald-Star zufolge bemühte sich Century um die Anliegen der Leute aus dem Uptown-Viertel. Ein Auszug aus der Liste ihrer Kunden war der Story beigefügt, unter ihnen Home Free, die Organisation der Obdachlosenanwälte, die Deirdre unterstützte. Dow Jones berichtete außerdem von einem Interesse der JAD Holdings Group, die Bank zu kaufen. Diese Informationen waren alles andere als weltbewegend, aber nichtsdestotrotz ließ ich sie mir ausdrucken, um etwas in der Hand zu haben.
Vielleicht war ja so etwas wie eine Verschwörung zwischen Rathaus und Bank im Gange, abe r wahrscheinlich ging es dabei um so kleine Fische, daß die Zeitung es nicht für nötig hielt, darüber zu berichten. Vielleicht interessierte sich ein höherer Kommunalbeamter für den Grund, auf dem Lamia bauen wollte, und hatte seinen Kollegen veranlaßt, die Baugenehmigung für Lamia zurückzunehmen. Ende der Geschichte.
Weil der Drucker so laut war, hatte ich nicht gehört, wie die Tür aufgegangen war. Als eine Hand mich an der Schulter packte, sprang ich vor Schreck so hoch, daß ich mit dem Knie gegen das Bein meines Schreibtisches knallte. Das Gespenst aus dem Keller stand hinter mir.
»Jessie braucht einen Arzt«, sagte die Frau. Ihre Augen funkelten wild, und sie hatte das Kinn angriffslustig vorgereckt, aber ihre Hände, die sie gegen die dicken Pulloverschichten preßte, zitterten. »Sofort? Ist es ein Notfall?«
»Sie kann kaum noch atmen. Sie keucht und schnappt nach Luft. Ich hab' sie nach oben gebracht, wie Sie gesagt haben, aber das hat ihr auch nicht geholfen.«
»Wo ist sie jetzt?« Es überraschte mich, daß sie die Kinder allein gelassen hatte, nach ihrer strikten Weigerung vom Vorabend, sie loszulassen.
»Zeigen Sie mir, wie Sie mir helfen können, dann sage ich es Ihnen.«
Ich schaute auf meine Uhr. Es war inzwischen halb sieben. Vielleicht war Lotty noch in der Klinik, aber der Gedanke an ihre wütenden Worte war mir unbehaglich.
»Ich bringe Sie in die Notaufnahme von...« Ich schwieg einen Augenblick und versuchte mir
Weitere Kostenlose Bücher