Engel im Schacht
Deirdre bitten können, sie in einem der Home-Free-Häuser unterzubringen. Ich glaube nicht, daß die Leute vom Krankenhaus ihr die Kinder wieder zurückgeben werden. Ich würde das jedenfalls nicht.« Ich verkniff mir eine wütende Antwort. Vielleicht hatte Lotty recht. Vielleicht wehrte ich mich nur so gegen ihre Anschuldigungen, weil ich nicht zugeben wollte, daß ich am Montag einen Fehler gemacht hatte. »Ich frage Deirdre morgen beim Abendessen. Der Abend scheint sowieso die Hölle für sie zu werden - vielleicht kann sie dann etwas Nützliches machen und ihn retten.« Lotty lachte trocken. »Sozusagen das ideale Gastgeschenk. Ich schaue mir die Kinder an, wenn ich meine morgendliche Runde mache.«
In etwas friedlicherer Stimmung als noch vor ein paar Minuten legten wir auf. In den vergangenen zwölf Monaten war es immer wieder zu solchen Auseinandersetzungen und schmerzlichen Ausweichmanövern gekommen.
Auf der ganzen Heimfahrt überlegte ich, was ich hätte machen sollen, als ich Tamar und ihre Kinder fand. Die Frage verfolgte mich bis in meine Träume; ich wachte fiebernd auf in einer Welt voller Eis, das jeden Ast, jede keimende Knospe der Bäume vor meiner Wohnung überzog. Alles schien kristallisiert, und unten auf dem Gehsteig schlitterten die Menschen dahin. Während ich zitternd aus dem Fenster schaute, schleuderten zwei Autos auf der Kreuzung Barry/Racine ineinander. Meinen ersten Termin hatte ich erst um zehn. Vielleicht war der Zustand der Straßen bis dahin besser. Ich zog Jeans und Pullover an und ging runter, um die Zeitungen zu holen. Hinter Mr. Contreras' Tür hörten mich Peppy und Mitch, die beiden Hunde, und fingen erfreut zu jaulen an. Der alte Mann machte die Tür auf, die Hunde kamen schwanzwedelnd heraus. Ich nahm ihre Pfoten, als sie an mir hochsprangen und mir das Gesicht leckten.
»Ich weiß schon, ich weiß schon«, sagte ich zu Mr. Contreras. »Die brauchen Auslauf. Aber schauen Sie sich mal die Straßen an - wir können nicht raus. Im Lauf des Tages wird's sicher wärmer, schließlich haben wir April. Ich geh' heut abend mit ihnen. Großes Indianerehrenwort. Egal, welche Katastrophen mich heute wieder erwarten ... Ich wollte mir grad' einen Kaffee machen. Kommen Sie auf eine Tasse rauf?« »Ich hab' mir schon einen gemacht, Schätzchen. Warum kommen Sie nicht rein und trinken bei mir 'ne Tasse?«
Der Kaffee des alten Mannes schmeckte immer wie Teer versetzt mit Benzin. Deswegen erklärte ich ihm schnell, daß ich schon das Wasser aufgesetzt hätte und unbedingt hoch müßte. Zehn Minuten später stand er mit einem Teller klebrigen Gebäcks in der Hand in meiner Küche, und die Hunde strichen um seine Beine.
Das war die letzte Freude, die mir dieser Tag bescherte. Zwischen den verschiedenen Terminen versuchte ich mittags, ein gewisses Interesse für Phoebes und Camillas Problem aufzubringen. Ich schaltete den Computer ein und bemühte mich, ein paar Fragen zusammenzustellen, aber mein Kopf schien absolut leer. Ich sah zu, wie ein Angestellter in dem Gebäude drüben auf der anderen Seite der Hochbahngleise Briefe sortierte. Der nie enden wollende Strom von Papier, raus aus der Post, rein in die Akten, dann wieder rein in die Post, glich sehr meiner eigenen monotonen Aufgabe. Fragen zusammenstellen, Termine ausmachen, Lexis abfragen, die Berichte des Börsenaufsichtsamts lesen. Ein Zug fuhr vorbei. Die Tauben flogen hoch, verdeckten die Sicht auf den Angestellten.
Als das Telefon klingelte, war ich froh, doch dann übermittelte mir Lotty die schlechte Nachricht. »Deine Freundin Mrs. Hawkings ist verschwunden. Sie hat nicht nur ihre Kinder, sondern auch noch Schuhe anderer Leute mitgenommen.« Einen Augenblick weigerte sich mein Gehirn, diese Information aufzunehmen. Als Lotty das, was sie gesagt hatte, in scharfem Tonfall wiederholte, bat ich sie matt um weitere Einzelheiten.
Offenbar war so gegen zehn eine Sozialarbeiterin zu Tamar und den Kindern gekommen, um sie zu befragen. Sie hatte der Forderung der Mutter zugestimmt, den Vater nicht zu benachrichtigen, jedoch gesagt, die Kinder müßten in ein Heim, wenn Tamar nicht nachweisen könne, daß sie ein solides Zuhause für sie habe, und wenn es sich dabei auch nur um eine Obdachlosenunterkunft handle.
»Na großartig«, sagte ich. »Genau die richtigen Worte. Als ich gestern abend gegangen bin, habe ich gedacht, daß die Leute eben das nicht als Drohung benutzen würden. Tamar hat alles drangesetzt, um die Kinder behalten
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