Engel im Schacht
Kind leise etwas vorzusingen, wie es normalerweise nur Frauen machen, um ihre Babys zu beruhigen.
Als ich bei Tamar Hawkings angelangt war, ließ ich mich auf keinerlei Diskussionen ein, sondern packte einfach das kleinste der Kinder und machte mich auf den Weg zurück zu Mr. Contreras. Mrs. Hawkings folgte mir, versuchte, mir das Kind zu entreißen und beschimpfte mich mit heiserer Stimme. Ihre beiden älteren Kinder stolperten hinter uns her. Als die Gruppe wieder zusammen war, erklärte ich ihnen hastig die Sachlage.
»Der Chicago River strömt hier herein. Die Mauer zwischen dem Fluß und den Tunnels ist gestern abend geborsten. Ihr müßt jetzt hier raus, sonst ertrinkt ihr. Oder ihr verhungert, weil ihr nicht mehr nach oben könnt, um Nahrungsmittel zu beschaffen. Ihr müßt zu mir kommen. Wir müssen durchs Wasser zurück zum Pulteney. Ihr müßt unbedingt nach oben. Wenn nicht, sterbt ihr alle.«
Emily zupfte wild an meinem Arm. »Wir können nicht zurück. Wir können nicht zurück! Tamar, bitte, sie darf mich nicht zurückbringen!«
»Du mußt nicht zurück zu Fabian, Emily. Aber du mußt jetzt hier raus.«
Mr. Contreras hielt sowohl Joshua als auch die größere Tochter von Tamar Hawkings an der Hand, während ich meine Gummistiefel wieder anzog. Ich fischte die Ersatzbatterien für meine Taschenlampe aus einer Seitentasche und setzte sie ein. Mit Mr. Contreras an der Spitze, der Joshua wieder auf den Arm genommen hatte, wandten wir uns der Gabelung im Tunnel zu und machten uns auf den Weg zum Wasser. Ich trug das kleinere Kind von Tamar Hawkings und hielt den Jungen an der Hand. Alle Kinder außer Emily wimmerten vor sich hin, und Jessie bekam wieder einen Asthmaanfall.
Als wir bei unserem Tunnel anlangten, reichte das Wasser Emily bereits bis zum Knie. Mrs. Hawkings, die noch kleiner war als Emily, schwankte in der Strömung. Keiner von ihnen hatte Gummistiefel, und alle waren zu schwach, um durch die Wasserflut zurückgehen zu können.
»Wir müssen das in Etappen machen«, sagte ich zu Mr. Contreras. »Können Sie Joshua voraustragen und auf die Treppe setzen? Ich bleibe in der Zwischenzeit mit den anderen hier. Wenn Sie zweimal allein gehen können, schaffen wir die restlichen Kinder zu zweit.«
Er nickte mit grimmiger Entschlossenheit. »Also, Junge, du und ich, wir machen jetzt einen kurzen Spaziergang. Du brauchst nicht weinen, deine Schwester kommt sofort nach. Überlaß das einfach deinem Onkel Sal: Ich bring' dich sicher hier raus, du wirst schon sehen.«
Seine beruhigende Stimme vermischte sich mit Joshuas schwachen Rufen nach Emily. Die beiden Geräusche hallten von den Tunnelwänden wider, noch nachdem das Licht ihrer Taschenlampe hinter der Kurve verschwunden war. Emily stand zitternd neben mir; die Tränen bahnten sich einen Weg durch den Schmutz in ihrem Gesicht. Nathan klammerte sich an ihr fest und jammerte leise und monoton vor sich hin. Die beiden älteren Kinder von Tamar Hawkings standen mittlerweile bis zur Taille im Wasser. Ich setzte das kleine Mädchen in den Latz meines Overalls - es war wegen seiner schlechten Ernährung so klein, daß es darin ohne Probleme Platz hatte - und nahm den Jungen auf den Arm. Er klammerte sich an meinen Hals wie ein Affchen; seine Arme zitterten vor Erschöpfung. Jessie schnappte so verzweifelt nach Luft, daß ich Angst hatte, sie könnte ersticken. Ich konnte nichts für sie tun, weil ich selbst so außer Atem war, daß ich kaum die Kraft zum Reden fand.
Ich nahm das Seil und schlang es um Tamar Hawkings' Taille; das andere Ende wollte ich an Emily festbinden. Aber beide wehrten sich und drängten auf den trockenen Boden zurück, den wir hinter uns gelassen hatten.
Plötzlich rutschte Tamar aus und fiel ins Wasser. Ich zog sie wieder auf die Füße und versuchte dabei, die Kinder nicht fallen zu lassen.
»Verdammt«, keuchte ich. »Sie bringen Ihre Kinder um und sich dazu. Hören Sie auf, sich zu wehren.«
Sie blieb mit düsterem Gesicht stehen, hustete das schmutzige Wasser aus der Lunge und ließ es zu, daß ich ihr das Seil um die Taille schlang. Als Emily sah, daß Tamar sich widerstandslos anseilen ließ, gab auch sie den Kampf auf. Ich hielt das Seilende fest, lehnte mich gegen die Wand, um Luft zu schöpfen und die Last der Kinder ein wenig zu verteilen. Die Beule an meinem Kopf begann wieder zu pochen, und die angebrochene Rippe preßte schmerzvoll gegen meine Lunge.
Als ich noch an der Wand lehnte und nach Luft schnappte, kam
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