Engel im Schacht
Mr. Contreras wieder.
Er stolperte ein bißchen in dem Wasser und stützte sich an der Wand ab.
»Wir sollten zusehen, daß wir jetzt alle hier rauskriegen«, sagte ich. »Das Wasser steigt schneller, und ich glaube nicht, daß Sie die Kraft haben, den Weg noch zweimal zu gehen.«
Er nickte und schnappte ebenfalls nach Luft. »Das Wasser ... ist jetzt schon auf der vierten Stufe... auf dem untersten Treppenabsatz. Ich hab'... den kleinen Jungen... ganz raufgebracht. Da ist er in Sicherheit. Die Ratten sind noch nicht da. Ich hab' bis jetzt bloß zwei gesehen und dem Jungen für alle Fälle einen Stock gegeben.« Wir warteten, bis sein Atem sich beruhigt hatte. Ich schlang das eine Ende des Seils um ihn, das andere um mich selbst. Dann nahm er Jessie auf den Arm, die jetzt flacher atmete. Sie rollte die Augen, ohne etwas wahrzunehmen. Ich holte das kleine Kind aus meinem Overall und reichte das Mädchen seiner Mutter - ich konnte nicht gehen und zwei Kinder tragen. Dann setzten wir uns auf den Schienen in Bewegung, Mr. Contreras voran, gefolgt von Tamar, dann Emily, die Nathan an der Hand hielt, und ich am Ende.
Der Weg war ziemlich beschwerlich. Emily versteckte sich erst seit einer Woche im Tunnel, war aber von der schlechten Ernährung deutlich geschwächt. Mrs. Hawkings, die schon seit Monaten hier unten wohnte, war so schwach, daß sie die größte Mühe hatte, gegen das Wasser anzukämpfen. Sie fiel immer wieder hin. Als sie das dritte Mal stürzte, riß sie Emily mit sich. Behindert durch die Kinder, die wir trugen, war es auch für Mr. Contreras und mich nicht leicht, sie wieder aufzurichten. Ich hatte Angst, Jessie und die beiden Kleinkinder zu verlieren.
Das Wasser ging mir inzwischen fast bis zum oberen Rand der Gummistiefel. Wenn es noch weiter stieg, mußte ich sie ausziehen, damit mich das Gewicht des Wassers in den Schuhen nicht behinderte.
»Einen Augenblick«, keuchte ich Mr. Contreras zu. »Ich möchte das Seil an einem von den Haken festmachen und Mrs. Hawkings ziehen.«
Als ihm klar war, was ich vorhatte, nahm er mir ihren Sohn ab. Ich löste das Seil von uns allen. Mr. Contreras hielt das eine Ende fest, während ich den Tunnel weiterwatete, soweit das Seil reichte. Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen, band es an einem Haken fest und zog mit meinem ganzen Gewicht daran. Der Haken hielt.
Mr. Contreras band Emily hastig an dem Seil fest, und ich begann, sie langsam heranzuholen. Das war nicht allzu schwer, denn sobald ich zog, verlor sie das Gleichgewicht und fiel hin, was bedeutete, daß das Wasser für mich arbeitete.
Nachdem ich ihr gesagt hatte, sie solle aufstehen, watete ich wieder mit dem Seilende zu Mr. Contreras zurück. Wir banden Tamar fest, dann kämpfte ich mich zurück zu Emily und dem Haken und zog auch Tamar heran.
Wir mußten diesen Vorgang dreimal wiederholen. Am Ende hatte ich den Kampf gegen meine Gummistiefel aufgegeben und sie ausgezogen, damit ich zwischen dem Haken und den Vermißten leichter hin- und herkam. Als wir endlich bei der Treppe des Pulteney anlangten, hatte Tamar beinahe das Bewußtsein verloren. Ich war völlig erschöpft, und mein pochender Kopf sowie meine schmerzenden Arme schienen nicht mehr mir selbst zu gehören. Mr. Contreras' keuchender Atem drang zu mir herüber, erinnerte mich an das Leben, an die Notwendigkeit, weiterzugehen. Einzig Emily schien noch Energiereserven zu haben: Als wir zu der Treppe gelangten, rief sie »Josh« und stolperte die Stufen hinauf, um ihren Bruder in den Arm zu nehmen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie wir die vier Treppen zum Pulteney hinaufkamen - wir trugen Kinder, schoben Kinder, hievten Kinder, zwangen Tamar und Emily, weiterzugehen -, jedenfalls kam es mir vor wie eine Lebensaufgabe. Ich hatte mittlerweile fast vergessen, wie Licht und Sonne aussahen - sie waren nur noch Träume, von den alten Schriftstellern überliefert. Es war nicht mehr der Wunsch nach Helligkeit, der uns nach oben trieb, sondern die Monotonie der Bewegung. Ich war so betäubt, daß ich das Loch hinter dem Boiler nur dumm anstarrte, als wir endlich dort ankamen.
Sobald wir im Keller waren, ging Mr. Contreras nach oben, um Hilfe zu holen. Ich selbst dirigierte die Gruppe inzwischen an dem Boiler vorbei zu den Kisten, wo ich mein Werkzeug aufbewahrte. Mit letzter Kraft stellte ich die Kisten in einem Halbkreis auf, setzte mich hin und lehnte mich gegen eine. Joshua, der sich an Emily klammerte, lag links neben mir. Auf der
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