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Engel im Schacht

Engel im Schacht

Titel: Engel im Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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Schritten schien mir das Wasser niedriger. Weitere fünfzig, und ich stand im Schlamm. Im Lichtkegel vor mir erkannte ich bereits trockene Abschnitte. Ich versuchte Mr. Contreras zuzurufen, daß er mir folgen könne, aber ich wußte nicht so recht, ob er mich bei dem Echo hörte, also ging ich wieder zu ihm zurück. Das Wasser war leicht gestiegen, als ich wieder bei ihm war. »Wollen Sie mitkommen? Wenn wir in zehn Minuten niemanden gefunden haben, blasen wir die Sache ab.« »Aber klar, Süße. Jetzt sind wir schon so weit gegangen, ohne irgendwas gefunden zu haben, da können wir ruhig noch ein paar Schritte weitergehen.« Ich befestigte wiederum ein Stück von der Decke an einem Träger an der Kreuzung. Dabei entdeckte ich eine ganze Reihe ähnlicher Haken - vielleicht hatte man daran früher Laternen aufgehängt, als die Tunnels noch regelmäßig benutzt wurden. Uber dem Haken sah ich eine ausgeblichene Schrift. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um sie mir genauer anzusehen: Dearborn/Adams, stand da. Wir waren also zwei Häuserblocks nach Westen gegangen und einen Block nach Süden in den zwanzig Minuten, die wir mittlerweile hier unten waren.
    Das Licht meiner Taschenlampe wurde allmählich schwächer. Ich knipste sie aus und ließ Mr. Contreras vorausgehen. Das Wasser war inzwischen ein Stück weiter in den linken Tunnel eingedrungen, aber sobald wir uns auf trockenem Boden befanden, ging es schneller. Jenseits der Kurve bewegte sich plötzlich ein Schatten von uns weg. Ich konnte nicht erkennen, was es war, doch die Bewegung konnte eigentlich nur von einem Menschen stammen.
    »Hey, wartet mal!« rief ich. »Mrs. Hawkings? Jessie? Ich bin's, V. I. Warshawski. Ich bin gekommen, um euch zu helfen. In die Tunnels dringt Wasser ein!« Die Gestalten huschten weiter von uns weg. Sie waren zwar nicht schnell, aber mit meinen Gummistiefeln kam ich auch nicht sonderlich gut voran. Also zog ich sie aus und lief in der Mitte des Tunnels zwischen den Gleisen weiter. Mr. Contreras folgte mir, so schnell er konnte, doch schon bald war ich aus dem Lichtkegel seiner Taschenlampe, deshalb schaltete ich wieder meine eigene an. Viel Licht spendete sie nicht mehr, aber immerhin reichte es noch, daß ich nicht über die Schienen stolperte. Schon nach kurzer Zeit hatte ich die Gruppe eingeholt und packte die Gestalt, die mir am nächsten war, ein kleines Kind. Der Junge wehrte sich ein bißchen, blieb dann stehen und begann leise zu jammern. Auch die anderen blieben stehen. Es waren mehr als vier, wie viele, konnte ich jedoch bei dem schlechten Licht nicht sagen. Zusätzlich zu dem Schimmel, der Kohle und den Ratten roch ich jetzt auch noch den beißenden Gestank von Urin und Angst. Ich schluckte meinen Ekel hinunter. »Lassen Sie ihn los. Sie haben kein Recht, ihn festzuhalten.«
    Eine der Gestalten versuchte, meine Hand von seinem Arm zu lösen, aber sie hatte keine Kraft in den Fingern, so daß sie das Kind nicht befreien konnte. Der Arm des Jungen fühlte sich ziemlich zerbrechlich an. Endlich kam auch Mr. Contreras, ein wenig außer Atem, an. »Sind Sie das, Süße?«
    Im stärkeren Licht seiner Taschenlampe erkannte ich Tamar Hawkings, die lautlos mit ihren Kindern rückwärts in den Tunnel zurückwich. Die Frau, die versucht hatte, meine Finger vom Arm des Jungen zu lösen, blieb bei mir stehen. Sie hatte ein Kleinkind auf dem Arm, das mit dünner Stimme zu jammern begann.
    »Keine Angst, Natie, es ist alles in Ordnung. Wein nicht; ich passe schon auf dich auf.« »Emily?« platzte es so laut aus mir heraus, daß sie vor mir zurückwich. Ich starrte sie verblüfft an. Wenn sie den Mund nicht aufgemacht hätte, hätte ich sie nicht erkannt. Ihre krausen Haare klebten stumpf auf ihrem Kopf, das Gesicht war ausgezehrt und grau vor Hunger und Schmutz. Jeans und Bluse schlotterten an ihrem schmalen Körper. Sie wich vor mir zurück. Ich legte ihr die Hand auf den Arm.
    »Ich muß dich und deine Brüder in Sicherheit bringen. Du mußt mitkommen. Verstehst du?«
    Ich sah fast nur das Weiße in ihren Augen. Sie schien Fieber zu haben; ihr Atem ging schnell und rasselnd. Ich war mir nicht sicher, ob sie das, was ich sagte, verstand. Ich wandte mich Mr. Contreras zu.
    »Das sind die Messenger-Kinder. Können Sie Joshua halten, während ich Mrs. Hawkings hole?«
    Er nahm den älteren Jungen auf den Arm, als wiege er nichts, und drückte ihn gegen seine Brust. Während ich den Tunnel wieder hinauftrabte, begann Mr. Contreras dem

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