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Engel im Schacht

Engel im Schacht

Titel: Engel im Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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versuchte, sie nicht zu beachten, und schaute den Tunnel entlang. Nachdem ich langsam einige Schritte durchs Wasser gemacht hatte, entdeckte ich die Schienen. Die Steinmauern rundeten sich knapp einen Meter fünfzig über unseren Köpfen zu einem Gewölbe.
    »Was jetzt? Glauben Sie, daß sie sich irgendwo anders in Sicherheit gebracht haben?« Mr. Contreras' Stimme hallte dumpf von dem Gemäuer wider wie eine alte Glocke. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht mal, ob sie wirklich hier unten sind. Der Fäustling, den wir gefunden haben, beweist nur, daß wahrscheinlich mal ein Kind hier gewesen ist, aber wann, ist nicht klar.« Ich steckte nervös die Hand in das stinkende Wasser, um zu sehen, woher es kam, und merkte, daß es an einer Stelle rechts von der Tür anstieg. »Wenn sie vom Wasser überrascht worden sind, haben sie sich vermutlich davon wegbewegt. Ich glaube nicht, daß sie zurück ins Gebäude sind. Warum gehen wir nicht einfach den Tunnel ein Stück rauf? Wenn uns das Wasser bis zum Knie reicht, kehren wir um.«
    Ich wischte mir die Hand ein paarmal an einem Tuch ab, bevor ich den Arbeitshandschuh wieder anzog. Mr. Contreras sah zuerst mich an und dann das Wasser. Schließlich erklärte er sich brummend be reit, mit mir weiterzugehen.
    »Vielleicht sollten wir den Weg irgendwie markieren«, meinte er. »Es könnte ja sein, daß es hier unten noch mehr von diesen Türen gibt.«
    Wir hatten weder Farbe noch andere Mittel zum Markieren dabei, also riß ich ein Stück von einer Decke und band es um das Gitter der offenen Tür. Wahrscheinlich würden die Ratten sich nicht dafür interessieren, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, auf trockenes Terrain zu gelangen.
    Gestützt auf die Metallstangen wateten wir den Tunnel entlang. Mr. Contreras schaltete seine Taschenlampe aus. In unregelmäßigen Zeitabständen überprüften wir den Wasserstand. Das Wasser stieg zwar nicht schnell, aber ich konnte trotzdem ein Gefühl der Panik nicht unterdrücken. Was, wenn uns der Rückweg abgeschnitten wäre? Wir würden ertrinken und niemals entdeckt werden.
    »Wissen Sie, Süße, mein Leben war gar nicht so schlecht«, verkündete Mr. Contreras, dem offenbar ganz ähnliche Dinge durch den Kopf gingen wie mir. »Ich war glücklich verheiratet - Clara war wirklich die beste Frau, die man sich denken konnte. Schade, daß Sie sie nie kennengelernt haben - ihr beide hättet euch bestimmt wunderbar verstanden. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß ich als junger Mann nie so glücklich gewesen bin wie jetzt, wo Sie bei mir im Haus wohnen. Wie lange sind Sie jetzt schon da - sechs Jahre? Was Sie sich immer ausdenken! Wenn einer von meinen Freunden heute morgen auch so was Interessantes macht wie ich - Einbrecher spielen oder nach einer vermißten Familie suchen -, fresse ich einen Besen mitsamt Bürste.« Ich mußte lachen. »Sie vergnügen sich hier, und ich mache mir fast in die Hose vor Angst, daß wir ertrinken könnten.«
    »Ja, Sie haben Angst - schließlich sind Sie kein gefühlloser Roboter -, aber Sie lassen sich nicht davon abhalten, etwas zu unternehmen. Deshalb bewundere ich Sie. Ich mag gar nicht dran denken, was passiert, wenn einer von uns aus der Racine Avenue wegziehen muß. Besonders, wenn dieser Jemand ich bin und wenn ich dann bei Ruthie draußen in Elk Grove Village lande.«
    Wir kamen an eine Kurve des Tunnels. Hier wirbelte das Wasser in winzigen Strudeln und stand uns bereits bis zu den Waden. Ich zögerte und ging dann weiter. Mr. Contreras zuckte mit den Achseln und folgte mir.
    Nach ungefähr fünfzehn Metern gelangten wir zu einer Kreuzung mit einem anderen Tunnel. Das Wasser strömte von der rechten Seite in unseren Schacht. Das erklärte die Strudel -sie trafen auf die Flut, die hinter uns anstieg. Hier unten fehlte mir jede Orientierung; ich hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sich die geborstene Wand befand oder woher das Wasser kam, deshalb wußte ich auch nicht, ob wir uns auf die Hauptquelle zu- oder von ihr wegbewegten.
    »Können Sie einen Augenblick hierbleiben?« fragte ich Mr. Contreras. »Ich möchte mir den linken Schacht ansehen.«
    Er knipste seine Taschenlampe wieder an. »Wenn Sie zurückkommen wollen, schalten Sie Ihre Taschenlampe aus, dann sehen Sie meine. Gehen Sie einfach darauf zu. Und rufen Sie alle dreißig Sekunden etwas, damit ich weiß, daß alles in Ordnung ist.« Ich bog in den linken Schacht und rief pflichtschuldig alle zehn Schritte etwas. Nach dreißig

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