Engel im Schacht
dabei, Emilys Eltern nicht auf mich aufmerksam zu machen. Am anderen Ende des Flurs stritten sich Deirdre und Fabian noch immer lautstark. Sogar auf diese Entfernung und bei geschlossener Tür hörte ich ihre wütenden Stimmen. Unten hatten die Bediensteten mittlerweile alles aufgeräumt und die Lichter ausgemacht. Ich schob den Riegel der massiven Haustür zurück und ging hinaus.
Ich sah mir das Haus noch einmal vom Gehsteig aus an. Das große Schlafzimmer ging auf die Straße. Plötzlich erlosch das Licht hinter dem Fenster. Nach ein paar Sekunden schimmerte dafür schwaches Licht aus einem Zimmer auf der Südseite. Das war Emilys Zimmer. Sie war aufgestanden, oder ein Elternteil hatte sich zu ihr gesellt. Mir wurde fast schlecht, so ohnmächtig kam ich mir vor. Ich floh hinaus in die Nacht. Es war eins, bis ich endlich zu Hause war. Als ich meine Ausgehkleidung aufhängte, sah ich den Lachsfleck, der immer noch meine weiße Seidenbluse verunzierte.
Ein verängstigter Maulwurf
Im Traum hörte ich Emily immer noch schluchzen. Ich folgte dem Geräusch einer reich verzierten Treppe hinunter. Anfangs erhellten mir üppige Wandleuchter noch meinen Abstieg. Mit der linken Hand tastete ich über die reliefartig erhöhten Blumen in der roten Tapete, und meine Füße versanken im Plüsch. An einer Biegung der Treppe ging das Licht plötzlich aus, und ich mußte im Dunkeln weitertappen. Der Samt unter meinen Händen verwandelte sich in Stein; die Treppe verengte sich, der Teppich verschwand. Emilys Schreie hörten nicht auf, aber die Treppe wollte kein Ende nehmen. Als ich schwindelnd nach unten stolperte, fiel sie in sich zusammen. Ich stürzte, scheinbar stundenlang, bis ich vor dem Zimmer landete, in dem das Mädchen weinte. Ich rappelte mich hoch und drückte die Tür auf.
Lotty Herschel stand vor mir. »Versuch ja nicht, sie anzurühren«, meinte sie. »Du verletzt sie bloß.«
Ihre wütenden Worte weckten mich auf. Ich lag eine ganze Weile still da und beobachtete die geisterhaften Schatten, die das graue Licht an die Decke zeichnete. In einer Ecke hatte eine Spinne ihre letzte Ruhestätte gefunden. Sie schwang an einem Faden ihres Netzes in der Luft, die durch meine schlecht schließenden Fenster drang. In vier Monaten wurde ich vierzig. Die Träume, die ich mit Zwanzig gehabt hatte - eine Sehnsucht nach Ruhm und Menschenfreundlichkeit gleichermaßen -, erschienen mir jetzt genauso gespenstisch und sinnlos wie das letzte Stück schmutzigen Fadens, den die Spinne im Todeskampf gesponnen hatte.
Wieso wollte ich eigentlich das massige Pulteney-Gebäude zusammenhalten, wenn es sowieso in ein paar Wochen zusammenkrachte? Das war wieder einmal typisch für mich. Ich vergeudete ungeheure Energiemengen bei dem Versuch, das Leben fremder Leute zu kitten oder unlösbare Probleme zu lösen. Hinter jeder Naht klaffte wieder ein Riß.
Sogar die Kommode vor meinem Bett, die ich damals mit dem festen Vorsatz, sie abzubeizen und neu einzulassen, auf dem Flohmarkt gekauft hatte - unter den zahlreichen Schichten Firnis verbirgt sich massives Walnußholz, hatte mir die Freundin, die mich begleitete, eine Expertin für solche Sachen, gesagt -, gehört zu dieser Kategorie. Nach fünf Jahren war die abgeblätterte braune Farbe zu einem Teil meines Lebens geworden.
Ich zog mir die Decke über den Kopf und versteckte mich vor dem Anblick der Spinne und der Kommode. Als das Telefon klingelte, ging ich erst mal nicht ran, in der Hoffnung, der Anrufer würde aufgeben. Schließlich streckte ich, die Augen immer noch verklebt, den Arm aus und hob ab.
»Guten Morgen, Baby. Na, wie war's bei den Reichen und Schönen?« Das war Conrad Rawlings, der in letzter Zeit immer Nachtschicht schieben mußte. Ich setzte mich auf, allmählich regte sich wieder Leben in mir. »Sie haben mich genervt. Ich bin noch im Bett. Wie war's bei dir heute nacht?«
»Sechs Schußverletzungen, eine davon tödlich, eine Messerstecherei, eine Fahrerflucht - der Fahrer hat den Verletzten noch die halbe Western Avenue runtergeschleift - und ein Baby in der Mülltonne. Ich habe den Typ mit dem Wagen erwischt und einen von den Schießwütigen. Und da willst du sagen, du warst genervt. Du willst mir doch wohl nicht weismachen, daß die Topjuristen sich so aufführen, oder?« »Nee, natürlich nicht. Das sind bloß Typen, die ihre Frau und die Kinder ein bißchen piesacken, und die Frauen heben hin und wieder einen über den Durst, das ist alles.« Ich gab mich barsch,
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