Engel im Schacht
um meine brüchige Stimme zu kaschieren.
»Ha, Ms. W. Nimm dir das nicht so zu Herzen. Soll ich vorbeikommen?« Ich war versucht, ja zu sagen, aber es war schon nach zehn, und ich hatte meinen ersten Termin um elf. Eigentlich hatte ich die Schnauze voll, mich immer antreiben zu lassen, aber irgendwie wurde ich die altmodische Moral des fleißigen Arbeiters einfach nicht los. Vielleicht war das aber auch nur die Stimme meiner verstorbenen Mutter. Als ich einmal mit acht Jahren Schwierigkeiten in der Schule hatte, wollte ich am nächsten Tag nicht mehr hin. Tränenüberströmt sagte ich, ich habe Bauchweh. Mein zartbesaiteter Vater wollte mich mit einem Buch und einem Teddybären ins Bett stecken, aber Gabriella zwang mich dazu, mich anzuziehen. In gebrochenem Englisch, nicht wie sonst auf italienisch - um mir zu zeigen, daß es ihr ernst war -, erklärte sie mir, nur Feiglinge liefen vor ihren Problemen davon, insbesondere vor solchen, die sie sich selbst eingebrockt hatten. Aber nach der Schule wartete sie mit einer Tüte voll Baiser vor dem Schultor auf mich, um mir zu zeigen, daß Tapferkeit belohnt wurde. Ich schwang meine bleischweren Beine über die Bettkante. »Ach, nichts wäre mir lieber, aber es geht nicht. Wann kriegst du denn wieder eine menschliche Schicht? Nächste Woche?«
»Am Dienstag. Halt den wunderbaren Gedanken, den du jetzt hast, ganz fest und lass dich nicht von diesen großspurigen Bankern und Anwälten anmachen. Ich würde ungern den Rest meines Lebens wegen dir in Joliet verbringen - das würde mir meine Mama nie verzeihen.«
»Wenn du meinetwegen in Schwierigkeiten geraten würdest, würde ich nicht mehr lange genug leben, um mir darüber Gedanken zu machen«, meinte ich trocken. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Conrads Mutter fände wahrscheinlich jede Freundin von Conrad gräßlich, aber die Tatsache, daß ich weiß bin, verstärkte ihre Zuneigung zu mir nicht gerade.
Er lachte leise. »Apropos: Du hast doch nicht vergessen, daß Camilla am Sonntag Geburtstag hat? Glaubst du, du packst das?«
»Schließlich hast du's mit Supergirl zu tun. Für nichts auf der Welt würde ich mir das entgehen lassen. Stell dir vor - ich arbeite sogar an einem Projekt für sie. Ich versuche rauszufinden, warum Stadtrat Lenarski die Baugenehmigung für Lamia zurückgezogen hat.« »Du hast Zeit für solchen Blödsinn, Ms. W. ? Das halst du dir doch nicht etwa meinetwegen auf, oder? Wenn ja, rufe ich sofort Zu-Zu an und sage ihr, sie soll die Sache abblasen.«
Zu-Zu war Camillas Kosename innerhalb ihrer Familie. »Nein. Das ist nur wieder mal mein schlechtes Gewissen, das mir erbarmungslos im Nacken sitzt.«
»Nicht so trübselig, Baby. Wenn wirklich alles so schlimm ist, wird's Zeit, daß du dir ein bißchen frei nimmst. Kannst du nicht ein paar Tage wegfahren?«
»Nein, dazu sitze ich zu tief in einem finanziellen Loch. Natürlich könnte ich den Trans Am verkaufen und einen billigeren Wagen fahren. Dadurch würde ich ungefäh r fünfhundert Dollar im Monat sparen. Ich könnte auch alles verkaufen und ein paar Monate in der Toskana herumreisen. Ein paar Freunde von mir haben das gemacht - sind einfach in Italien und Frankreich rumgefahren, bis ihnen das Geld ausgegangen ist, und dann sind sie wieder nach Chicago zurückgekommen und haben sich eine Arbeit gesucht.«
»Toll!« Conrad war voller Bewunderung. »Woher nehmen die Leute nur den Mut für so was? Vielleicht kommt man, wenn man so aufgewachsen ist wie ich und sein Lebtag Geld für die Familie rangeschafft hat, nie zu einer so lockeren Lebenseinstellung.« »Mag sein«, stimmte ich ihm zu. »Aber dann sollte ich mir vielleicht doch lieber einen Hund anschaffen.«
»Ich ruf dich heut abend wieder an, Baby. Laß dich nicht unterkriegen. Hast du gehört?«
Wir legten auf. Das Gespräch hatte mich nicht unbedingt belebt, aber es hatte mir immerhin genug Kraft gegeben, um den Tag zu überstehen - die üblichen Treffen mit Klienten, Nachforschungen im County Building, Besuche beim Grundbuchamt, Nachfragen bei einem Freund bei Motor Vehicles. Was ich eben jeden Tag mache wie ein Hamster im Rad.
Um drei kam ich ins Pulteney, um ein paar Telefonate zu erledigen und das, was ich im Verlauf des Tages herausgefunden hatte, in den Computer einzugeben. Bevor ich in den dritten Stock hinaufging, schaute ich noch kurz im Keller vorbei. Keine Spur von Tamar Hawkings und ihren Kindern, aber als ich im Büro meinen Anrufbeantworter abhörte, erlebte ich eine
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