Engel im Schacht
sich Manfred, um sich bei Fabian und Deirdre für den wunderbaren Abend zu bedanken - warum auch nicht, schließlich hatte er bei ihnen am Tisch gesessen. Dann überraschte er mich, indem er das wiederholte, was er mir früher am Abend bereits im Wohnzimmer gesagt hatte.
»Die Juristerei hat sich sehr verändert, seit ich vor einem halben Jahrzehnt mit dem Studium begonnen habe. Die Menschen scheinen sich heute mehr fürs Geld als für die Gerechtigkeit zu interessieren. Wenn ich irgendeinem von den heute Anwesenden Gerechtigkeitssinn vermittelt habe, scheide ich zufrieden aus dem Berufsleben. Wir haben heute abend die hehren Worte eines bekannten Dichters gehört. Ich würde Sie gern an die Worte seines Zeitgenossen Francis Quarles erinnern. Er schrieb die folgenden Zeilen vor fast vierhundert Jahren, aber sie sind noch nicht so veraltet, daß wir nicht davon profitieren könnten: >Wende Recht und Medizin nur im Notfall an; wer sie anders verwendet, macht sich selbst zum Schwächling und Verschwender; Recht und Medizin sind gute Heilmittel, taugen schlecht zur Muße und führen zu ruinösen Gewohnheiten.<«
Als er sich wieder setzte, schwiegen die Anwesenden verblüfft. Ich erhob mich schnell und ging zu ihm hinüber.
»Heute sind schon mehr Lobesworte auf Sie gesprochen worden, als mir jemals einfallen würden. Ich will Ihnen bloß das eine sagen: Jedesmal, wenn ich Sie sprechen höre, sagen Sie etwas Wichtiges. Danke dafür, daß das auch heute abend so war.« »Viel Glück, Victoria. Ich werde jetzt viel Zeit haben, um Freunde einzuladen. Kommen Sie doch mal auf eine Tasse Kaffee vorbei, wenn Sie grade in der South Side unterwegs sind, um Gangster aufzuspüren.«
Er drückte mir kurz die Hand. Dann umringten ihn seine anderen Exstudenten. Ich verschwand, ohne mich von meinem Gastgeber und seiner Frau zu verabschieden. Als ich den Trans Am wendete, um wieder nach Norden zu fahren, sah ich, daß auch die anderen Gäste allmählich den Heimweg antraten.
Erst am McCormick Place, vielleicht fünf Kilometer nördlich von Kenwood, erinnerte ich mich wieder an meinen Mantel. Ich seufzte verärgert. Wenn ich ihn nicht gleich holte, mußte ich anrufen und einen Zeitpunkt vereinbaren, wann ich ihn abholen konnte. Und dann mußte ich mich entweder freundlich mit Deirdre unterhalten oder ihr klipp und klar erklären, was ich von ihren Kapriolen an diesem Abend hielt. Keine der beiden Alternativen war sonderlich attraktiv. Also lenkte ich den Wagen auf die linke Spur, fuhr an der Twenty-third Street heraus und kehrte in den Süden zurück. Durch die Läden an den vorderen Fenstern schimmerte noch Licht. Ich rüttelte an der Tür, aber die war inzwischen zugesperrt. Ich läutete und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden, als eine oder zwei Minuten vergingen. Ich klingelte noch einmal. Endlich bequemte sich einer der Barkeeper zur Tür. »Die Party ist vorbei, Miss - es sind alle gegangen.«
»Tut mir leid. Ich hab' meinen Mantel vergessen. Eins von den Kindern hat ihn nach oben gebracht - ich laufe schnell rauf und hole ihn. Ich bin schon so gut wie weg.« Er musterte mich von oben bis unten. Offenbar überzeugte ihn mein offenes und ehrliches Gesicht davon, daß ich weder eine Einbrecherin noch eine Mörderin war. Er machte die Tür auf und deutete in Richtung Treppe. Auf halber Höhe erst merkte ich, daß ich keine Ahnung hatte, wo ich oben eigentlich hinwollte. Ich rief hinunter, um ihn zu fragen, aber er war bereits wieder im hinteren Teil des Hauses verschwunden. Alte Wandleuchter erhellten die Treppe und den oberen Flur und ließen die graue Velourstapete samtig schimmern. Dicke Teppiche schluckten meine Schritte. Oben zögerte ich einen Augenblick, weil ich die Kinder nicht wecken wollte, indem ich irgendwelche Türen öffnete. Stimmen drangen aus einem Zimmer am anderen Ende des langen Flurs. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, so daß zusammen mit den Geräuschen auch ein Lichtstrahl herausdrang. Auf halber Höhe des Flurs merkte ich, daß es sich bei dem Geräusch um Fabians Stimme handelte.
»Wie kannst du es nur wagen?« fauchte er. »Mich so vor den Gästen zu blamieren. Ich habe dir schon vor Wochen gesagt, was ich will, und du hast dich bereit erklärt, ihm den Text beizubringen. Du hast mir gesagt, er kann ihn perfekt. Wie lange hast du schon vorgehabt, mich auflaufen zu lassen? Wann ist dir eingefallen, daß das die ideale Methode ist, mich zu blamieren?«
Ich blieb vor der Tür stehen. Emily
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