Engel im Schacht
sollte, aber damit bewies ich nur, daß ich mehr Kraft hatte als die junge Frau, und um das zu beweisen, mußte ich keine Türen einrennen.
»Ich warte. Ich werde ihn nicht lange belästigen.« Wenn sie mich ganz normal gefragt hätte, was ich von Jasper wollte, hätte ich vielleicht ein paar magische Worte gesagt, aber ihr Mißmut ging mir allmählich auf die Nerven.
Sie runzelte die Stirn noch heftiger und überlegte offensichtlich, wie sie mit mir umgehen sollte. Das Problem löste sich plötzlich in Luft auf, als die hintere Tür aufging und ein massiger Mann mit Schaffelljacke und finsterem Blick herauskam. Die Kunden von Home Free waren offenbar nicht die fröhlichsten Leute.
»Ich warne Sie, Heccomb: Lassen Sie mich lieber nicht auf dem trockenen sitzen«, meinte er über die Schulter.
Jasper Heccomb kam nach ihm in den Raum und legte die Hand auf seine Schulter. »Ich dachte, Sie wollen den Job jemand anderem geben, Gary.« Ich hatte ganz vergessen, wie tief und klangvoll seine Stimme war - sie hatte ein Timbre, mit dem er Fahnenflüchtige bei der Stange halten konnte. Aber Gary schien das nicht zu beeindrucken. Vielmehr begann er zu brummen, daß es egal sei, ob er selbst oder einer seiner Männer den Job erledigte, er erwartete jedenfalls - da sah er mich und redete nicht mehr weiter.
Ich möchte nicht behaupten, daß ich Jasper wiedererkannt hätte, wenn ich ihm auf der Straße begegnet wäre - schließlich war es zwanzig Jahre her, daß ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber da ich sein Auftauchen erwartete, erkannte ich ihn sofort. Das güldene Haar, das seinen Kopf umrahmt hatte wie einen präraffaelitischen Jesus, war immer noch lang, aber zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Daß es an de n Schläfen bereits dünner wurde, verlieh seinem schmalen, verträumten Gesicht nur einen distinguierteren Ausdruck.
»Wer ist das?« fragte er die Frau am Schreibtisch über meinen Kopf hinweg.
»V. I. Warshawski«, antwortete ich für sie. »Ich habe gestern angerufen. Hast du meine Nachricht bekommen?«
»Haben wir ihre Nachricht bekommen, Tish?«
»Sie wollte mir nicht sagen, was sie wollte; da habe ich mir gedacht, ich belästige Sie lieber nicht damit«, murmelte sie, die Hände ringend.
Tishs verändertes Verhalten, der Wechsel von Aggressivität zu Verlegenheit, schien zu beweisen, daß die Frauen immer noch aus Liebe für Jasper arbeiteten.
»Wir haben früher mal an der University of Chicago zusammengearbeitet - du hast damals Sit-ins organisiert, und ich habe geholfen, Briefe in Umschläge zu stecken«, sagte ich. »Jetzt bin ich Privatdetektivin und ... mit Deirdre Messenger befreundet. Ich habe mir gedacht, vielleicht kannst du mir ein paar Fragen beantworten.«
Garys Gesicht wurde noch düsterer. »Deirdre Messenger? Also, Heccomb - was ist jetzt?«
»Ich kümmere mich schon drum, Gary.« Jasper legte ihm wieder die Hand auf die Schulter. »Sie können beruhigt sein. Wir haben Sie doch noch nie im Stich gelassen, oder?«
Gary wollte etwas sagen, schaute mich dann aber frustriert an und stapfte aus dem Büro. Er kletterte in den Lieferwagen und fuhr mit knirschendem Getriebe los. »Dann steckst du also jetzt keine Briefe mehr in Umschläge, sondern arbeitest für Deirdre Messenger? Da bist du ja die Karriereleiter ganz schön raufgefallen.« Sein flüchtiges Lächeln entschärfte seine Worte etwas.
»Bei dir hat sich wohl auch einiges getan: Keine Sit-ins mehr, aber dafür dieses Büro hier. Erwartet die University of Chicago nicht mehr von ihren Ehemaligen?« Er grinste. »Wenn ich mir die finanziellen Vorstellungen der Uni so ansehe, erwartet sie wohl um einiges mehr.«
Tish schob, offenbar wütend, eine Schublade mit einem Knall in den Schreibtisch. Sie tat mir leid. Hatte ich damals auch so offensichtlich die Stirn gerunzelt, wenn Jasper eine andere anlächelte? »Was sollst du also für Deirdre machen?«
»Sie hat mir keinen richtigen Auftrag gegeben. Sie und Donald Blakely haben mir gegenüber nur deinen Namen erwähnt.«
»Donald Blakely?« Er hob die Augenbrauen. »Tish - hat Blakely in letzter Zeit angerufen wegen ... Tut mit leid, ich sollte mich eigentlich an deinen Namen erinnern, wenn wir zusammengearbeitet haben, aber da waren so viele ... «
»Ja, allerdings«, sagte ich, als seine Stimme abschweifte. »V. I. Du kannst mich Vic nennen.«
Tish mischte sich ein: »Ich kann Mr. Blakely anrufen, wenn Sie wollen.« »Nein, machen Sie sich nicht die Mühe - das
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