Engel in meinem Haar - Die wahre Geschichte einer irischen Mystikerin
einigen weiteren Minuten flüsterte ich Joe zu, ich würde lieber wieder gehen. Was wir auch taten, und Joe hatte nicht das Geringste dagegen: Ich glaube, er fühlte sich bei dem Film ebenso unwohl wie ich. Wir spazierten weg vom Kino die O’Connell Street hinauf, dorthin, wo bis 1966 die Nelson-Säule gestanden hatte. Der
Abend war so herrlich, dass ich froh war, nicht im Kino zu sitzen. Hand in Hand mit Joe durch die Gegend zu schlendern war eindeutig die bessere Wahl für unser erstes Date. Unterwegs unterhielten wir uns. Eine von Joes ersten Äußerungen war, er sei froh, dass nicht er den Film ausgesucht habe! Wir brachen beide in Gelächter aus.
Als wir beim GPO, dem General Post Office ankamen, nickten wir dem wachhabenden Polizisten ein »Guten Abend« zu – ich habe das imposante Bauwerk aus grauem Granit mit seiner Tempelvorhalle schon immer bewundert. Mir fiel ein Pärchen ins Auge, es stand in enger Umarmung und tauschte Küsse, ganz dicht hinter ihnen ihre Engel, als wollten sie den beiden helfen, zusammenzukommen. Ich lächelte, als wir vorübergingen. Joe legte mir den Arm um die Schultern. Es fühlte sich gut an. Ich kam mir beschützt vor bei ihm.
An der Ampel überquerten wir die Straße und gingen in ein Restaurant. Das war etwas Neues für mich – ich war vorher noch nie abends in einem Restaurant gewesen. Es war ein langgezogener, schmaler Raum mit Marmorfußboden, am Boden festgeschraubten Metalltischen mit rechteckiger Fuß- und kunststoffbeschichteter Tischplatte, die von hölzernen Sitzbänken flankiert wurden. Deren Rücklehnen maßen etwa 1,20 Meter, so dass man im Sitzen nicht darüber weg und den Nachbarn ins Gesicht oder auf die Teller schauen konnte. Wir nahmen einander gegenüber auf den Holzbänken Platz, und Joe las mir vom Gesicht ab, dass ich ein solches Lokal noch nie von innen gesehen hatte; er erzählte mir, diese spezielle Art von Diner-Tischen würden booths – Kabinen – genannt. Dann erschien die Bedienung und wir bestellten Tee und Sandwiches.
Wir tauschten uns über unsere Eltern aus: Joes Vater lebte nicht mehr. Wir sprachen auch über unsere Brüder und Schwestern, ich war bei uns die Drittälteste, Joe dagegen das Nesthäkchen seiner Familie. Dann fragte er
mich: »Was, meinst du, würde dein Vater sagen, wenn er uns hier zusammen sehen könnte?«
»Was Paps betrifft, bin ich mir nicht sicher, aber Mam hätte bestimmt etwas dagegen.«
Also einigten wir uns darauf, Stillschweigen zu bewahren.
Wir verließen das Restaurant und schlenderten durch die Straßen, guckten die Schaufenster an, um uns dann am Kai entlang Richtung Busbahnhof zu halten. Da Joe in einer anderen Gegend wohnte als ich, musste er auch einen anderen Bus nehmen. Mein Bus war gerade angekommen, da es bis zur Abfahrt aber noch ein Weilchen dauern würde, nahmen wir erst einmal beide Platz und freuten uns, noch ein bisschen Zeit miteinander zu haben. »Jetzt steigst du aber besser um in deinen Bus«, meinte ich irgendwann zu Joe.
Er stand auf und sagte, er würde in einer Minute zurück sein. Er sprach mit dem Schaffner und setzte sich dann wieder neben mich: »Ich fahre mit dir heim und bringe dich noch bis an deine Haustür.«
Der Schaffner hatte ihm von einem inoffiziellen Bus erzählt, einem, der nicht auf dem Fahrplan verzeichnet war und vom Zentrum bis in die Nähe unseres Hauses fuhr, um dann den Rückweg ins Depot in der Innenstadt anzutreten – auf dieser Route nahm er offiziell keine Fahrgäste mit – aber eben nur offiziell … Man nannte ihn »die Geisterlinie«. Von da an brachte mich Joe jedes Mal heim, wenn wir aus gewesen waren, fuhr dann mit dem »Geisterbus« ins Zentrum zurück und marschierte von dort aus zu sich nach Hause.
Joe und ich erwähnten es niemandem gegenüber auch nur mit einem Wort, dass wir miteinander ausgingen. Andere Mädchen meines Alters hätten das Geheimnis sicher mit ihrer besten Freundin geteilt, aber mir fehlte eine solche Vertrauensperson. Wie dem auch sei, die Engel hatten jedenfalls betont, es müsse ein Geheimnis bleiben – und wann immer sie mir etwas in dieser Richtung
vorgeben, halte ich mich daran – bis heute. Ob Joe es jemandem erzählte, weiß ich nicht, ich habe ihn nie danach gefragt, aber ich glaube es eigentlich nicht.
Wir hielten es also geheim, und obwohl wir auch insgesamt sehr vorsichtig waren – konnte Joe mit seinem ausgeprägten Sinn für Unfug der Versuchung nicht widerstehen, mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu
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