Engel sterben
gesagt, Silja?«
»Ja?«
Wieder ist da diese Verunsicherung in ihrer Stimme.
»Hej, jetzt weiß ich, was bei mir im Hirn den ganzen Morgen schon rumort hat, ohne dass es richtig deutlich werden konnte.«
»Und?«
»Es war bei der Hausdurchsuchung von diesem Hübner, dem Journalisten, ihr wisst schon. Ich habe da einen Zettel gefunden. Leo und ich konnten ihn beide nicht lesen, und er war schon uralt. Vergilbt und brüchig. Billiges Papier. Ich fand es nicht der Mühe wert, die Sauklaue von diesem Hübner zu entziffern, aber das war, bevor wir den Engelsbrief bekommen haben.«
»Aber was stand auf dem Zettel? Ungefähr wirst du es ja noch wissen.«
Sven Winterberg spürt, wie sich ein Kribbeln in seiner Magengrube regt. Ist das der Durchbruch? Der Moment, auf den sie alle sehnsüchtig seit Tagen warten?
»Auf dem Zettel? Wartet mal. Es war ein Kompositum, ein zusammengesetztes Wort. Etwa vier bis fünf Buchstaben am Anfang, dann noch mal sechs oder sieben. Es begann mit einem ›E‹, so weit war noch alles klar. Erst dachten wir: ›Esel‹, dann ›Engel‹. Irgend so etwas. Der zweite Teil begann mit einem ›st‹ und endete mit ›en‹. Ein Verb. Stehen, sterben, streben, stillen, irgend so was.«
»Das müsste man doch genauer herausfinden können, oder nicht?«, insistiert Sven.
»Sicher. Nur müssen wir dazu erst den Zettel wiederfinden.«
»Ich denke, ihr hattet ihn schon.«
Siljas Stimme klingt ungeduldig. Ein Umstand, den Sven mit Erleichterung wahrnimmt. Offenbar hat sie zu ihrer Professionalität zurückgefunden.
»Tja, wir haben nur mitgenommen, was wir für wichtig gehalten haben. Den Rest haben wir wieder in die Kisten gepackt.«
»Kisten?« Eine steile Falte erscheint auf Siljas Stirn.
»Na, du warst ja nicht mit bei diesem Hübner zu Hause, wenn man das denn so nennen will. Aber Sven erinnert sich vielleicht. Da gibt’s ein Bett und einen Korbstuhl, eine Glotze und einen wackligen Kleiderschrank und sonst nur Umzugskisten, die an einer schimmeligen Wand gestapelt waren.«
»Klingt verlockend.«
Silja räkelt sich in ihrem Stuhl, als wolle sie eine weniger ironische Bedeutung des Wortes unter Einsatz ihres ganzen Körpers illustrieren. Sven verdreht die Augen. Dann wird er betont energisch.
»Also, dann wissen wir doch, was zu tun ist. Endlich kommt Tempo in die Sache. Am besten, Bastian fährt nach List und sucht nach diesem Zettel. Ich kümmere mich inzwischen hier um die Vermisstenanzeige für diese Maklerin.«
»Und ich?«, fragt Silja leise.
»Dich nehme ich mit«, erklärt Bastian, steht auf und greift nach ihrer Hand.
Dienstag, 28. Juli, 11.43 Uhr,
Kurverwaltung Kampen
Das Foyer des Kurhauses ist voller Menschen. Vielleicht war das Gedränge in den Wochen vor den Entführungen noch stärker, aber es reicht immer noch, um Karoline vollauf zu beschäftigen. Die Karten für das nächste Sommerkonzert in der Keitumer Dorfkirche sind ebenso gefragt wie die Termine für die Vorstellungen des Kinderzirkus. Und die Kampener Dorfführungen sind für den ganzen August ausgebucht.
Karoline ist seit über einer Stunde allein hinter dem Tresen. Ihre Kollegin Doreen musste dringend zum Arzt. Aber obwohl die Warteschlange der Kurgäste immer länger wird, bemüht sich Karoline, ihre Ruhe nicht zu verlieren. Geduldig geht sie auf die Fragen, Wünsche und Bedürfnisse der Wartenden ein. Ihr kommt die Ablenkung nach dem unruhigen Wochenende, das sie hinter sich hat, ganz recht. Nur nicht zu viel an das Watthaus denken. An die Hexe, die sich immer wieder eingeschlichen hat. Oder an die drei kleinen Mädchen, die seit Tagen in großer Gefahr sind. Lieber Galerien empfehlen und Konzertkarten verkaufen.
»Moin, moin. Was kann ich für Sie tun?«
Immer höflich sein. Dezent und gleichzeitig herzlich. Engagiert.
»Bedaure, für diese Woche gibt es leider keine Karten mehr.«
Sich konzentrieren. Nur auf das Hier und Jetzt.
»Aber natürlich können Sie sich das Gastgeberverzeichnis mitnehmen, dafür liegt es ja hier.«
Die Albträume der letzten Nächte vergessen. Und die Lieder, die Kinderlieder, die sich so schlecht verdrängen lassen.
»Wie bitte? Was haben Sie gesagt?«
»Der Kinderzirkus. Ich wüsste gern, wann die Nachmittagsvorstellung beginnt.«
»Moment bitte. Ich schau mal nach.«
Der Kinderzirkus gastiert jeden Sommer auf der Insel, und er ist immer wieder ein Hit. Karoline müsste die Anfangszeiten längst auswendig wissen, und gestern wusste sie sie auch noch, aber sie
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