Engel sterben
Mäntlein um.
Sagt, wer mag das Mädchen sein,
das da liegt im Wald allein,
mit dem purpurroten Mäntelein.
Dienstag, 28. Juli, 12.30 Uhr,
Wattvilla Kampen
Monas Uhr zeigt halb eins. Aber ist es Nacht oder Tag? Mona kann sich nicht erinnern, dabei ist sie doch noch gar nicht so lange eingesperrt. Seit zwei Tagen vielleicht. Oder seit dreien? Am liebsten würde sie mit dem Kopf gegen die Tür schlagen vor Verzweiflung. Immer wieder, immer kräftiger. So lange, bis diese verdammte Tür endlich aufgeht. Falls sie das überhaupt jemals wieder tun wird. Falls sie nicht verschlossen bleibt bis in alle Ewigkeit.
Nein, so wird es schon nicht kommen, schließlich will Markus Rother doch sein Haus verkaufen. Er wird sich im Maklerbüro erkundigen, wenn er in den nächsten Tagen nichts von ihr hört. Im schlimmsten Fall wird er einen zweiten Schlüssel abliefern müssen, denn der erste ist ja hier, im Keller dieses Hauses, in Monas Lederbeutel. Und wenn der zweite Schlüssel erst einmal eingetroffen ist, dann werden sie kommen, Monas Kollegen, und sie werden ihren Interessenten das Haus zeigen, und irgendwann wird einmal jemand auf die Idee kommen, den verschlossenen Kellerraum aufzubrechen.
Und dann wird man sie finden. Oder das, was von ihr übrig ist. Stinkendes, faulendes Fleisch.
Es stinkt jetzt schon. Urin und Kot. Schweiß und Angst.
Und die Kekse sind aufgegessen. Die Äpfel auch. Es gibt nur noch wenig zu trinken. Und Mona hat Durst, großen Durst, unerträglichen Durst.
Aber vielleicht weiß dieser verteufelte Steingart auch, dass ihre Vorräte zur Neige gehen. Er hat sie immerhin schon einmal mit Nachschub versorgt. Vielleicht tut er es wieder. Sie darf nur nicht einschlafen, sie muss wach bleiben, sie muss ihn überraschen und überwältigen. Sie muss gegen ihn kämpfen und gewinnen.
Aber wie?
Mona sieht sich um, zum sie-weiß-längst-nicht-mehr-wievielten Mal, seit die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen ist. Eine Waffe muss her. Etwas Spitzes, Scharfes, Starkes.
Aber hier ist nichts dergleichen. Monas Blicke wandern über den Matratzenstapel, auf dem sie selbst geschlafen hat, dann über die vier Betten, die sie längst bis auf die Sprungfedern zerfleddert hat.
Und wenn sie eine der Sprungfedern lösen könnte? Es sind alte Bettgestelle, und die großen spiralförmigen Federn sind trotz des Rostes robust und hart, allerdings nur noch wenig elastisch. Mit viel Mut und dem richtigen Winkel, mit etwas Geschicklichkeit und sehr viel Glück könnte man damit jemanden niederstrecken. Björn Steingart niederstrecken, verbessert sich Mona, denn warum soll sie nicht ihren Feind mit Namen nennen. Das macht ihn menschlich, und wer menschlich ist, wird auch angreifbar.
Ein Geräusch reißt Mona aus ihren Gedanken. Da ist jemand im Haus.
Schritte, Husten. Türenschlagen.
Hastig beugt sich Mona über eines der Betten und zieht und rüttelt an allen Sprungfedern. Ihr Ziel ist es, eine zu finden, die vielleicht abgenutzter ist als andere und die sich daher leichter aus ihrer Verankerung wird lösen lassen. Mona arbeitet mit hektischer Eile, denn sie fürchtet jetzt nur noch eines: Dass ihr Kerkermeister vor der Zeit kommen wird, dass er erscheinen wird, während sie noch bei der Arbeit ist, dass er sie überraschen und ihren Plan vereiteln wird.
Als sie eine der Sprungfedern gelockert und endlich ganz gelöst hat, ist Mona so erleichtert, dass sie für kurze Zeit die Augen schließt. Doch dann nimmt sie zwei Dinge gleichzeitig wahr. Zum einen die Feuchtigkeit, die ihre Hände benetzt und die sich bei näherem Hinsehen als Blut entpuppt, das aus ihren geschundenen Fingerspitzen tritt. Und zum anderen die Geräusche auf dem Kellergang, die sich ihrem Verlies von außen nähern.
Jenseits der Tür ist jemand, und er kommt mit harten, entschiedenen Schritten näher.
Dienstag, 28. Juli, 12.35 Uhr,
Wattvilla, Kampen
Endlich ist Karoline angekommen. Ihre Hand zittert so stark, dass sie den Schlüssel kaum im Schloss drehen kann. Und als sie die Tür anhebt, kommt sie ihr so schwer vor, als habe sich jemand von innen an die Klinke gehängt. Eine ihrer Schwestern vielleicht?
Vorsichtig schiebt Karoline die Tür auf.
Doch im Flur des Watthauses ist niemand. Oder doch? Kommen da nicht merkwürdige Töne aus dem Keller? Ein Schlagen und Stampfen. Toben die drei Schwestern vielleicht auf der Treppe herum? Und kichern sie nicht dort hinten an der Kellertür? Vorsichtig schleicht Karoline sich näher. Durch die Diele,
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