Engel sterben
wohnt, dann kriegt man doch sehr viel von dessen Gewohnheiten mit. Er denkt vielleicht, dass er leise ist, wenn er nachts nach Hause kommt. Aber das ist er nie. Ich höre ihn immer, das können Sie mir glauben. Ich schlafe schon seit Jahren nicht mehr besonders gut. Und letzte Nacht war Fred Hübner ganz bestimmt nicht hier, und heute Vormittag auch nicht, das kann ich beschwören, falls es nötig sein sollte.«
»Danke, Frau Manthey, wir glauben Ihnen auch so. Und wir werden wohl oder übel nach Ihrem Mieter suchen müssen. Aber zunächst haben wir noch etwas in seinem Häuschen zu erledigen.« Kreuzer schwenkt den Schlüsselbund in seiner Hand. »Ob wir den wohl bis morgen behalten dürfen?«
»Von mir aus.«
Gisela Mantheys Antwort kommt zögernd und klingt nicht gerade begeistert. Der Grund dafür ist nicht schwer zu erraten. Vielleicht kann es sich die Vermieterin nicht verkneifen, ab und an selbst in Fred Hübners Zimmer zu stöbern.
»Ich will ja nicht neugierig sein, aber er hat doch etwas ausgefressen, oder?«
»Wir haben jedenfalls Gründe, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen, so viel darf ich sagen. Und ich möchte das auch gleich mit einer Bitte verbinden: Falls Ihr Mieter sich hier zeigen sollte, und sei es auch nur ganz kurz, rufen Sie mich bitte sofort an. Ich darf Ihnen doch meine Handynummer geben?«
Gisela Manthey atmet tief durch. Die Handynummer eines Kriminalkommissars zu besitzen – wenn das keine Auszeichnung ist. Als sie die Karte entgegennimmt, wird sie sogar ein wenig rot.
»Sie können sich absolut auf mich verlassen. Ich erledige am besten gleich meine Einkäufe, dann bin ich vielleicht schon zurück, bevor Sie da hinten fertig sind, und kann gleich aufpassen, dass er uns nicht entwischt.«
»Das wäre nett von Ihnen.«
Während Bastian Kreuzer und Silja Blanck ihrer neuen Mit-Ermittlerin hinterhersehen, finden sich wie zufällig ihre Hände. Siljas Finger sind kalt, trotz der Hitze.
»Was ist mit dir?«, will Bastian wissen. »Aufgeregt?«
»Ja klar. Aber nicht deinetwegen.« Sie lacht leise.
»Sondern?«
»Ich habe einfach einen Schreck bekommen. Wegen diesem Hübner. Wieso ist der jetzt weg? Das gibt doch alles keinen Sinn. Ich meine, ihr haltet ihn vierundzwanzig Stunden fest, das wird ihm ja wohl nicht gleichgültig gewesen sein. Dann lasst ihr ihn frei – und er geht gar nicht nach Hause. Was hat er so Wichtiges zu tun, dass er es gleich nach seiner Freilassung mitten in der Nacht erledigen muss?«
»… und dass es bis jetzt andauert«, setzt Bastian Siljas Satz fort.
»Ihr habt einen Fehler gemacht, oder?«
»Sieht ganz so aus.«
»Ihr hättet ihn einfach nicht gehen lassen dürfen.«
»Da irrst du dich. Aber wir hätten ihn beschatten müssen. Wir hätten uns an seine gottverdammten Fersen heften müssen. Scheiße! Entschuldigung, aber ist doch wahr.«
Wortlos zieht Silja den Kollegen ums Haus herum und nimmt ihm den Schlüsselbund für das Gartenhaus aus der Hand. Während sie aufschließt, fragt sie leise: »Was meinst du? Ob wir vielleicht für fünf Minuten die Vorhänge zuziehen könnten?«
»Damit uns niemand beim Suchen nach diesem Engelszettel zusieht?«
»So ähnlich«, antwortet Silja und schiebt den Kollegen in Fred Hübners bescheidenes Heim, um ihn in aller Ruhe zu küssen.
Dienstag, 28. Juli, 13.22 Uhr,
Kriminalpolizei Westerland
Sven Winterberg sitzt an seinem Schreibtisch vor einem Kaffeebecher, dessen Inhalt längst kalt geworden ist. Winterberg hat die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und den Kopf zwischen beide Hände gelegt. Sein Blick klebt auf der Oberfläche des Getränks, wo sich eine dunkelgelbe Milchschicht gebildet hat, die unregelmäßige Risse aufweist.
Drei verschwundene Mädchen, denkt Winterberg und korrigiert sich sofort. Drei spurlos verschwundene Mädchen, wenn man einmal von den Kleidungsstücken des ersten Opfers absieht, die in der Dünenkuhle gelegen haben. Und jetzt diese Maklerin, die ebenfalls vom Erdboden verschluckt zu sein scheint.
Nach allem, was er gehört hat, handelt es sich hier um eine verantwortungsvolle Person, die nicht eben mal untertaucht. Es ist also davon auszugehen, dass auch in diesem Fall ein Verbrechen vorliegt – oder ein Unfall. Wobei Letzteres unwahrscheinlich ist, schließlich zeichnen sich Unfälle in der Regel dadurch aus, dass Schäden entstehen, die eher sichtbar als unsichtbar sind.
Also kein Unfall. Aber vielleicht ein Zufall, vielleicht hat dieses Verschwinden rein gar
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