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Engel sterben

Engel sterben

Titel: Engel sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ehley
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Alle wissen, was dieser Fund bedeutet. Sie haben es sehr wahrscheinlich mit einem Sexualverbrechen zu tun.
    Von Anfang an stand dieser Verdacht im Raum. Aber bisher gab es auch dafür keine Anhaltspunkte. Es gab für gar nichts Anhaltspunkte. Nun ist das anders. Denn falls der Entführer vorgehabt haben sollte, sein Opfer wohlbehalten den Eltern zurückzugeben, wird er ihm wohl kaum die Kleidung vom Leib gerissen haben.
    Nur langsam weicht der Schock von den Männern. Sie alle wissen jetzt, dass sie auch die nächsten Stunden hier verbringen werden. Die gesamte Kuhle wird mindestens einen Meter tief ausgeschachtet werden müssen, um sicherzugehen, dass sich neben oder unter der Kleidung nicht auch der Körper des Mädchens befindet. Der tote Körper.
    Und die Eltern sitzen dort hinten auf dem Parkplatz und warten.
    Alle Blicke gehen unwillkürlich zum Einsatzleiter. Der Regen hat etwas nachgelassen, aber der Wind pfeift dafür mit noch größerer Heftigkeit über die Dünen. Der Einsatzleiter geht mit gesenktem Kopf außen um seine Männer herum, bis er mit dem Rücken zum Wind steht. Nur so ist gewährleistet, dass alle seine Worte verstehen werden. Mit schweren Schritten tritt er in den Kreis der Grabenden.
    »Okay, wir haben Shirt und Shorts. Es fehlen die Badehose und die Schuhe. Und natürlich das Mädchen. Ihr wisst, was das heißt.«
    Alle nicken, aber der Einsatzleiter ist noch nicht fertig. Er hebt den Kopf und sieht Bastian Kreuzer direkt in die Augen. Kreuzer weiß genau, was jetzt kommt. Wieder die Arschkarte.
    Er hebt beide Hände, als wolle er sich verteidigen.
    »Ist schon okay. Ich bin der Leiter der Sonderkommission, ich gehe auch zu den Eltern und rede mit ihnen. Sven, kommst du mit?«

Freitag, 24. Juli, 17.15 Uhr,
Hauptstraße zwischen List und Kampen
    Monas Kiefer pocht nach der kurzen, aber schmerzhaften Behandlung, die der Zahnarzt ohne Betäubung durchgeführt hat. Am liebsten würde sie sich in ihrer Dachwohnung verkriechen, doch vorher muss sie noch in dem Rother’schen Haus am Watt nach dem Rechten sehen. Energisch tritt sie aufs Gaspedal. Der schlimmste Teil des angekündigten Unwetters scheint über die Insel gefegt zu sein, während Mona im Behandlungsstuhl ihres Zahnarztes gesessen hat. In dem fahlen, seltsam schattenlosen Spätnachmittagslicht liegt die Landschaft seitlich der Straße, die von List nach Kampen führt, wie ein geschundener Körper, der seine Wunden nicht verbergen kann.
    Auf dem Weg zum Zahnarzt hat Mona eine Hundestaffel in den Dünen entdeckt. Polizisten in dichten Reihen und kläffende Köter, die das Gras niedertrampelten. Jetzt scheinen Sturm und Regen nicht nur die Badegäste, sondern auch die Hundemeute vertrieben zu haben. Doch Tiere und Polizisten haben tiefe Spuren in Heide und Dünen hinterlassen. Mit der Urlauberidylle, die Sylt für seine zahlenden Gäste darstellen will, hat dieser Anblick nicht mehr viel zu tun.
    Bisher hat sich Mona nicht ernsthaft gesorgt, doch jetzt wird ihr plötzlich klar, dass die Vorkommnisse auch für sie nicht folgenlos bleiben werden. Sollte die Entführung nicht bald aufgeklärt werden, wird der Tourismusverband um den Erfolg der nächsten Saison fürchten müssen. Und mit ihm alle, die vom Sylt-Image profitieren und an ihm verdienen. Auch Mona und die Firma, für die sie arbeitet.
    Es wird also Eile vonnöten sein, wenn das Watthaus noch in dieser Saison lukrativ vermittelt werden soll. Mona denkt an Björn Steingart. Eine auf Hochglanz polierte Immobilie mit einem bescheidenen, aber durchaus spürbaren Preisnachlass wird ihn bestimmt zu einem schnellen Kauf animieren können. Auch sehr wohlhabende Menschen können dem Gefühl, ein Schnäppchen zu machen, nur selten widerstehen.
    Als Mona ihren Wagen auf der Einfahrt des Watthauses zum Stehen bringt und aussteigen will, reißt ein Windstoß ihr die Tür aus der Hand. Am Himmel jagen sich massive Wolkenschichten im Zeitraffertempo. Auch über die Heide fegt der Wind in schnell aufeinanderfolgenden Böen. Das Wasser zwischen Insel und Festland hat die dunkle Farbe des Schlicks angenommen und kräuselt sich in wirren Wellen.
    Es dauert eine Weile, bis Lidia auf das Klingeln der Maklerin reagiert. Als die Putzfrau die Tür des Watthauses öffnet, nimmt Mona sofort den neuen Geruch wahr. Ein starkes Zitronenaroma weht durch die Diele und lässt die Assoziationen in Richtung Frische, Wärme, Süden laufen.
    Lidia lacht über die schnuppernde Mona und winkt sie ins Wohnzimmer.

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