Engel sterben
Schritten, der schmerzenden Hüfte zum Trotz, hastet Karoline an der Bank vorbei, den Sandweg entlang, dem Watthaus entgegen. Bald liegt ihre Hand auf dem Türknauf, schon will sie hinein, da hört sie die Stimmen von innen. Es sind zwei Frauen, die in kurzen Sätzen miteinander reden. Es klingt versehrt, als hätten sie den Worten die Seelen aus dem Leib gezogen, ihnen die Bedeutungen genommen und den Sinn abgehackt. Das Gespräch hört sich an wie ein Schusswechsel, aber Karoline kann die Worte hinter den Kugeln nicht verstehen.
Als sie gerade die Tür öffnen will, um näher zu treten und besser lauschen zu können, hört sie, wie die Stimmen die Treppe hinunterkommen, der Eingangstür zu, ihr entgegen. Schnell dreht sich Karoline um, hinkt die paar Schritte hinüber zur Garage und verbirgt sich dort mehr schlecht als recht. Sie wartet mit klopfendem Herzen.
Es erscheint eine kleine dunkelhaarige Frau, die direkt zu dem roten Wagen geht, einsteigt, wendet und in Richtung Straße davonfährt. Wenig später kommt die blonde Hexe heraus und bleibt noch mehrere Sekunden unschlüssig vor dem Haus stehen. Es scheint Karoline sogar, als blicke sie mehrmals zur Garage hinüber. Karoline duckt sich tiefer hinter die blauen Müllsäcke, die gestern noch nicht hier waren und allein darum schon hassenswert sind, aber andererseits auch hilfreich, denn sie geben ihr Deckung. Jetzt macht die Hexe sogar einige Schritte auf Karoline und die Müllsäcke zu, aber dann scheint sie es sich anders zu überlegen und geht doch zu ihrem Wagen. Elegant gleitet sie hinter das Steuer und verschwindet gleich darauf mit leisem Motorbrummen von der Einfahrt.
Langsam richtet sich Karoline hinter den Müllsäcken auf. Sie überlegt kurz, was die undurchsichtigen Beutel wohl enthalten mögen, aber sie ist viel zu ungeduldig, um sich an den festen Knoten zu schaffen zu machen.
Karoline muss ins Haus, und das so schnell wie möglich. Ihre Schwestern sind in Gefahr. Man belagert sie. Die Feinde werden immer zahlreicher. Gestern war die Blonde noch allein, heute hat sie schon Verstärkung mitgebracht, wo soll das enden?
Als Karoline die Haustür aufstößt, riecht sie es sofort. Dies ist nicht mehr ihr Haus. Es ist auch nicht mehr die Heimat der schönen Schwestern. Es hat sich in eine scharf und klinisch stinkende Höhle verwandelt, ein Flughafenklo mit Zitronenaroma.
Freitag, 24. Juli, 18.05 Uhr,
Kriminalpolizei Westerland
»Ein Kaffee in der Abendkühle vertreibt des Tages Hast und Schwüle.«
Grinsend stellt Sven Winterberg einen dampfenden Kaffeebecher auf Bastian Kreuzers improvisiertem Schreibtisch ab.
»Hast und Schwüle, ja?« Kreuzers Gesichtsausdruck zeigt Unglauben und leichten Ekel. »Apropos: Hast. Hast du so was öfter?«
»Reimen entspannt mich.«
Mit dem Becher in der Hand weist Kreuzer auf Svens Ehering.
»Wusste das deine Frau, bevor sie dich geheiratet hat?«
»Frauen müssen nicht alles wissen.«
»Stimmt auch wieder. Wie ist sie denn so, deine Frau?«
»Im Moment ist sie vor allem besorgt. Unsere Tochter ist gerade sechs geworden, und Anja hat wahnsinnige Angst um Mette.«
»Immerhin haben wir von dieser Ann-Kathrin keine Leiche gefunden. Es gibt also noch die Möglichkeit, dass die Lütte wiederauftaucht.«
»Und vorher hat sie eigenhändig ihre Höschen im Sand vergraben, oder wie? Das meinst du nicht ernst.«
Jetzt hat sich Sven auch einen Becher mit Kaffee genommen und schlendert zu dem offenen Fenster. Draußen ist es immer noch windig, und die Temperaturen sind während des Regens um fast zehn Grad gesunken. Erst vor wenigen Minuten sind die beiden Kommissare aus List zurückgekehrt, wo sie nach dem Fund der Kleidungsstücke noch über zwei Stunden mit den Kollegen in den Dünen gegraben haben. Zum Glück vergebens.
Langsam streicht sich Bastian Kreuzer über seine stoppelkurzen grauen Haare und sagt mit leiser Stimme: »Na ja, die Möglichkeit, dass Ann-Kathrin noch lebt, besteht so lange, bis wir ihren toten Körper gefunden haben. Allerdings haben wir da ein Problem. Sollte das Mädchen tatsächlich noch am Leben sein, wäre die Frage, wo, zum Teufel, dieser Mistkerl von Entführer sie versteckt hält, ziemlich dringend zu beantworten.«
»Wir haben alles durchkämmt, Bastian. Kasernen, Lagerhallen, Bahnhofsnebengebäude. Sogar Pferdeställe. Es bleiben nur noch die Privathäuser. Und da kommen wir nur mit plausiblen Begründungen rein.«
»Zum Beispiel wenn wir alle vorbestraften Sexualtäter
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