Engel sterben
Schreck fällt Fred fast die kostbare Flasche aus der Hand. Denn auf dem Bildschirm der alten, unzuverlässigen Glotze direkt vor seiner Nase ist nicht irgendeine Dünenlandschaft zu sehen, sondern exakt die Kuhle in den Lister Dünen, in der er selbst erst gestern diese merkwürdigen Fußspuren entdeckt hat. Oder war es vorgestern? Oder vielleicht heute? Vorhin? Oder morgen? Würde ihn gar nicht wundern, wenn er selbst gleich leibhaftig durch das Bild da vorn auf der Mattscheibe laufen würde.
Das muss das Delirium sein, denkt Fred nicht ohne eine gewisse Befriedigung. Jetzt ist es also so weit. Heute Nacht wird der ehemals berühmte Journalist Fred Hübner sich definitiv zu Tode saufen. Darauf den ersten Zug aus der frischen Flasche.
Als Fred wieder aufblickt, ist der Nachrichtensprecher an seinen Platz zurückgekehrt. Falls er überhaupt jemals weg gewesen ist. Obwohl der Mann stark nuschelt und eine irgendwie verschliffene Aussprache hat, gelingt es Fred mühsam, den Sinn seiner Worte zu verstehen. Außerdem hilft das eingeblendete Foto Fred freundlicherweise auf die Sprünge.
Auf einem ansonsten kahlen Tisch liegen eine grellorangefarbene Shorts und ein ehemals weißes, jetzt stark verschmutztes Tanktop. Die Erklärung folgt auf dem Fuß. Ausgerechnet in der Sandkuhle, die Fred bestens vertraut ist, hat eine Hundestaffel der Polizei am frühen Nachmittag die beiden Kleidungsstücke aufgespürt, so ist zu erfahren. Sie gehörten ebenjener Ann-Kathrin, die vor wenigen Tagen fast vor Freds Augen entführt worden ist.
Mist, denkt Fred und nimmt einen weiteren Schluck. Verdammter Mist, ich hab’s vermasselt. Fred der Große ist eben doch nur noch ein mieser kleiner Säufer. Selbst wenn Reste seiner berühmten Spürnase ihn in die richtige Richtung leiten, ist er nicht in der Lage, die Situation zu nutzen. Sitzt im Sand und spielt mit einer Feder, der geniale Schreiberling, und findet sich wer weiß wie toll. Bildet sich ein, die Feder erinnere ihn an etwas. Etwas Wichtiges natürlich. Und dabei hockt er die ganze Zeit auf den Klamotten von der Toten. Oder Verschwundenen. Aber wahrscheinlich eher Toten. Sogar der Polizeisprecher, den man gerade zur Untermalung des Dünenbildes live interviewt, scheint nicht besonders hoffnungsvoll zu sein.
Doch jetzt kommt Bewegung ins Bild. Zuerst flackern die Augen des Interviewers. Es scheint, als könne der Journalist den Blick nicht auf dem Gesicht des Polizeisprechers halten. Immer wieder starrt er auf den Bildschirm des Laptops, der aufgeklappt vor ihm auf dem Stehtisch platziert ist. Dann räuspert er sich, obwohl der Polizeisprecher mitten im Satz ist. Schließlich unterbricht er ihn unhöflich, fällt ihm einfach ins Wort, stottert fast, verhaspelt sich mehrmals, sucht nach Worten.
»Gerade sehe ich auf dem Monitor … wir haben hier eine ganz frische Meldung … das ist wahrscheinlich auch für Sie eine Neuigkeit …«
Es folgt ein außerordentlich irritierter Blick des Polizeisprechers, erst ins Gesicht seines Gesprächspartners, dann hinunter auf den Laptopbildschirm. Dabei wird der Mann leichenblass. Gleichzeitig erscheinen hektische Flecken auf seinen Wangen. Und während Fred noch denkt, da haben sie dich aber schlecht gepudert, Kumpel, verschwindet der Polizeisprecher ohne jede Vorwarnung nach links aus dem Bild, als sei er plötzlich unpässlich geworden. Der Journalist starrt ihm sekundenlang mit fassungslosem Blick hinterher, bevor er sich beherzt ans Publikum wendet.
»Meine Damen und Herren, soeben sehe ich hier vor mir eine ganz aktuelle dpa-Meldung. Es hat auf Sylt eine zweite Kindesentführung gegeben. Am späten Nachmittag ist auf dem Parkplatz eines Supermarktes im Süden der Insel die kleine Paula Missfeld, ein fünfjähriges Mädchen, spurlos verschwunden. Ich gebe jetzt erst einmal zurück in die Nachrichtenredaktion, aber bitte bleiben Sie dran, wir werden Sie in den nächsten Minuten ganz sicher mit neuen Informationen versorgen.«
Eine weitere Entführung? Fred reibt sich die Augen. Oder sind das alles schon Halluzinationen? Zur Probe wechselt Fred den Kanal. Tatsächlich, das Programm ändert sich. Ein Comedian starrt mit aufgeblendeten Augen Fred genau ins Gesicht. Er macht einen Witz, den Fred nicht versteht, weil er nicht zuhört. Der Comedian legt die Hand hinters Ohr und lauscht auf das eingeblendete Gelächter. Fred greift noch einmal zur Fernbedienung und schaltet das Gerät aus.
Zwei entführte Mädchen hier auf Sylt, in seiner
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