Engel sterben
mit den örtlichen Kollegen zusammen. Aber die haben wenig Erfahrung mit solchen Sachen. Sylt ist ja nicht gerade eine Verbrechenshochburg.«
»Kommt drauf an, wie man Verbrechen definiert.«
»Jetzt bleiben Sie mal sachlich, ja.«
Fred bückt sich und zieht eine Wasserflasche aus dem Kasten in der Ecke. Er schraubt sie auf und setzt die Flasche an. Trinkt lange. Als er die Flasche absetzt, muss er aufstoßen.
»’tschuldigung. Wollen Sie auch was? Saubere Gläser sind gerade nicht vorrätig, aber ich biete Ihnen gern eine eigene Flasche an. Wie war noch mal Ihr Name?«
»Kreuzer. Bastian Kreuzer. Hauptkommissar beim Morddezernat.«
Während das Walross die angebotene Flasche aufschraubt, schräg über seinen geöffneten Mund hält und etwa einen halben Liter Wasser, ohne zu schlucken, in seinen Schlund laufen lässt, als handle es sich um eine Zirkusvorführung, merkt Fred, wie sich seine Gedanken selbständig machen.
»Am Auto haben Sie gesagt?«
»Hä?« Kreuzer schraubt die Flasche zu, kneift die Augen zusammen und produziert drei kräftige Querfalten pro Tränensack.
»Na ja, das ist doch auffällig. In beiden Fällen haben die Eltern oder die Mutter am Auto auf die Mädchen gewartet. Jedes Mal auf einem Parkplatz. Wäre doch nicht verwunderlich, wenn der oder die Entführer auch im Auto unterwegs gewesen wären.«
»Sie haben wohl länger kein Radio mehr gehört? Seit gestern Abend sendet die örtliche Station jede halbe Stunde einen Aufruf, dass sich alle, die zu den fraglichen Zeiten auf einem der beiden Parkplätze waren, bei uns melden sollen.«
»Umso besser. Ich habe übrigens kein Auto, falls Sie danach als Nächstes fragen wollten.«
»Wollte ich nicht. Aber danke für die Auskunft.«
In diesem Augenblick geht die Tür auf, und der Schmächtige kommt zurück. Seine Miene ist neutral, aber seine Stimme klingt deutlich freundlicher als vorher. Und er sieht Fred Hübner direkt in die Augen.
»Die Kassiererin Frau Brunsen hat sich an Sie erinnert. Der Wodka ist von gestern. Die Uhrzeit Ihres Einkaufs wusste sie nicht mehr ganz genau, aber es war auf jeden Fall kurz vor Feierabend, sagt sie. Der Laden schließt um sieben.«
»Gutes Mädchen.«
»Paula wurde gegen sechs zum letzten Mal von ihrer Mutter gesehen. Mit einem Auto hätten Sie es zur Not in einer halben Stunde einmal durch die Insel schaffen können. Haben Sie einen Wagen, Herr Hübner?«
»Lass stecken, Sven«, mischt sich Kreuzer in das Verhör. »Hat er nicht. Aber er hat mich auf eine Idee gebracht, die vielleicht gar nicht blöd ist. Lass uns gehen, ich erzähle dir unterwegs, was mir eingefallen ist.«
Winterberg nickt, ohne wirklich überzeugt auszusehen. Im Gehen dreht er sich noch einmal um.
»Und Sie setzen uns in Kenntnis, falls Sie auf die Idee kommen sollten, die Insel zu verlassen. Wir brauchen Sie noch.«
»Klugscheißer«, murmelt Fred, als die Tür ins Schloss fällt. Dann geht er in das winzige Duschbad und dreht den Kaltwasserhahn am Waschbecken auf. Wenn er das Gesicht zur Seite neigt, passt sein ganzer Kopf knapp zwischen Hahn und Becken. Die Kälte ist wie ein Schock. Aber nur so kann Fred einen klaren Gedanken fassen. Denn während er den abgestandenen Vorschlag mit den Parkplätzen gemacht hat, war da noch etwas anderes, das im Hintergrund seines leicht lädierten Hirns rumorte. Etwas, das auch mit Autos und Mädchen zu tun hatte. Jetzt muss es ihm nur noch einfallen.
Samstag, 25. Juli, 14.30 Uhr,
Mittelstieg, Hörnum
»Ich mache mir solche Vorwürfe.«
Viktoria Missfeld schlägt die Hände vors Gesicht und bricht zum dritten Mal seit Beginn des Gesprächs in Tränen aus. Sie wirft sich bäuchlings auf das rote Ledersofa, auf dem sie sitzt, und stößt dabei fast die Seltersflasche auf dem niedrigen Couchtisch um. Bastian Kreuzer und Silja Blanck, die einander gegenüber in zwei Korbsesseln Platz genommen haben, wechseln einen kurzen Blick. Bastian Kreuzer sieht nur die attraktive Kollegin, schmal, aufrecht, beherrscht. Silja Blancks Augen aber sind blind für den Mann, mit dem sie diesen Fall lösen soll. Ihre Aufmerksamkeit gilt nur der Mutter in Not, und auch das ist nicht die ganze Wahrheit. Denn die Bilder in ihrem Kopf, die Erinnerungen, die heftig und unabweisbar aufsteigen, sind noch andere und doch dem, was sie vor sich hat, so verdammt ähnlich. Silja Blanck sieht ihre eigene Mutter, die Schwestern und sich selbst in all den Stadien der Auflösung, die vermutlich noch vor der schluchzenden
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