Engel sterben
Viktoria Missfeld liegen.
Zunächst Selbsthass und Verzweiflung, dann das Bangen, ob man sich ein klein wenig Hoffnung gestatten dürfe, und schließlich – nach der furchtbaren Gewissheit – Wut und Trauer. Es kostet Silja eine ungeheure Mühe, all diese Gefühle nicht zuzulassen, sie unter der Oberfläche zu halten und ihnen zu verbieten, Spuren auf ihrem Gesicht zu hinterlassen. Darum ist sie fast dankbar, als Kreuzer auffordernd nickt und sie aufstehen, sich neben die Mutter des entführten Mädchens setzen, sich zu der Schluchzenden hinüberbeugen und vorsichtig das halblange, sorgfältig blondierte Haar streicheln kann. Mit leiser Stimme versucht sie die Mutter zu beruhigen.
»Ihre Gedanken sind ganz normal, das können Sie mir glauben. Aber Vorwürfe müssen Sie sich wirklich nicht machen. Das nutzt doch niemandem.«
»Aber wenn ich Paula nicht mit dem Einkaufswagen aus dem Supermarkt geschickt hätte, dann hätte diese Bestie sie doch niemals schnappen können. Und ich mache das sonst nie, immer schiebe ich den Wagen zuerst zum Auto und dann mit Paula gemeinsam zurück zu der Sammelstelle. Allein schon, weil ich die schweren Tüten dann nicht über den ganzen Parkplatz schleppen muss.«
»Und warum war das gestern anders?«, schaltet sich Kreuzer in das Gespräch ein.
Anstelle einer Antwort verstärkt sich das Schluchzen, und Kreuzer erntet einen bösen Blick von Silja. Frauensolidarität, denkt Kreuzer resigniert und beginnt zu bedauern, dass er nicht doch Winterberg zu diesem Gespräch mitgenommen hat. Andererseits schien ihm das anstehende Treffen mit Paulas Mutter eine gute Gelegenheit, um einmal mit Silja allein unterwegs zu sein. Jetzt bleibt ihm nichts weiter übrig, als auf die schmalen Hände der Kollegin zu starren, die tröstend über Viktoria Missfelds Haar streichen, und abzuwarten, bis diese sich beruhigt hat. Während die Abstände zwischen den Schluchzern länger werden und die Schluchzer selbst leiser, lässt Kreuzer seine Blicke auch über Siljas perfekten Körper wandern. Mit kleinen Brüsten und einem knackigen Hintern ausgestattet, entspricht dieser auf fatale Weise seinem Frauenideal. Er kann deutlich spüren, wie sein innerer Widerstand nachlässt und einem dringlichen Verlangen Platz macht, diesen Körper zu berühren. Die Wut über sich selbst überträgt sich auf seinen Tonfall, so dass Kreuzers Worte aggressiver klingen, als sie sollten.
»So leid es mir tut, Frau Missfeld, aber wir müssen schon noch einige Dinge mit Ihnen besprechen. Es ist wichtig, dass wir möglichst schnell Klarheit über den Ablauf des vergangenen Tages bekommen. Denn wir wissen immer noch nicht, wie es diesem Entführer gelingen konnte, beide Mädchen offenbar ohne Widerstand zum Mitkommen zu bewegen.«
»Sie meinen den Tagesablauf von Paula«, bringt die Mutter zwischen zwei Schluchzern hervor.
»Ganz recht. Es war doch ihr letzter Tag im Kindergarten vor den Ferien, oder?«
»Ja. Mein Mann hat sie morgens hingebracht und ist dann zur Klinik gefahren. Mein eigener Dienst hatte schon zwei Stunden früher begonnen.«
»Sie arbeiten als Laborantin, Ihr Mann als Arzt in der Nordseeklinik?«
»Genau. Und als ich um halb vier Schluss machen konnte, bin ich sofort zum Waldorfkindergarten gefahren, um Paula abzuholen. Es sind nur zehn Minuten mit dem Wagen, wenn es keinen Stau gibt. Man muss quer durch Westerland und an Keitum vorbei, dann liegt der Kindergarten zwischen Feldern und Wiesen nicht weit von den Bahngleisen im Osten der Insel. Es ist ein großes Gelände, und die Lütten haben unglaubliche Möglichkeiten zum Spielen und Bauen da draußen. Deswegen haben wir uns vor zwei Jahren auch für diesen Platz entschieden. Und wegen der Öffnungszeiten natürlich. Aus den kommunalen Kindergärten müssen die Lütten ja schon mittags abgeholt werden. Da hätte ich mit meiner vollen Stelle ein Problem gehabt.«
»War denn an diesem letzten Tag vor Beginn der Ferien etwas Besonderes geplant? War irgendetwas anders als sonst?«
Viktoria Missfeld nickt und schluckt. Tapfer kämpft sie mit den Tränen. Schließlich muss sie doch wieder zum Taschentuch greifen. Ihre Stimme ist jetzt sehr leise, und sie unterbricht sich mehrmals, um sich zu schnäuzen.
»Die Kinder hatten einen Zauberer zu Gast. Er muss nachmittags zwischen zwei und drei seine Vorstellung gehabt und die Kleinen vollkommen in seinen Bann gezogen haben.
Jedenfalls hat Paula ohne Unterlass von diesem Mann geredet. Ich konnte mich beim
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