Engel sterben
vermutlich.«
Zum Glück stehen mehrere leere Flaschen in der Ecke stramm und nicken zustimmend, wie es sich für anständige Zeugen gehört.
»Sie können also niemanden benennen, der Sie gestern gesehen hat.«
»Ist vielleicht besser so, oder? In meinem Zustand.«
»Jetzt hören Sie mal gut zu, Herr Hübner. Das hier ist kein Spaß. Vor drei Tagen ist ein Mädchen in List am Strand verschwunden. Und Sie waren dort. Dafür gibt es jede Menge Zeugen. Und gestern ist ein zweites Mädchen verschwunden. Es wäre durchaus nützlich, wenn Sie sich an Ihren Tagesablauf erinnern könnten.«
»Gestern oder vorvorgestern?«
»Beide Tage.«
»Gestern muss ich im Supermarkt gewesen sein. Hab die Kumpels da hinten mitgenommen. Oder ihre Zwillingsbrüder.«
»Mitgenommen?«
»Jetzt haltet aber mal die Luft an. Cash gegen Sprit, so läuft das bei mir. Ich bin vielleicht ein Gelegenheitstrinker. Aber ich bin kein verdammter mieser kleiner Dieb.«
»Und ein Kindesentführer?«
»Bastian, bitte.«
Der Schmächtige legt eine schmale Hand auf die Pranke vom Walross. Der Muskelmann entschuldigt sich artig.
»Sorry. Ist mir rausgerutscht. War nicht so gemeint.«
»Kein Problem. Macht euch menschlich.«
»Also: Welcher Supermarkt? Und wann waren Sie dort?«
»Der kleine, da hinten an der Kreuzung. Und wann, na ja, schwer zu sagen. Vielleicht war’s auch vorgestern, sind ja immerhin zwei Flaschen. Warum fragen Sie nicht Hilde, die wird das schon wissen.«
»Hilde?«
»Hilde Brunsen. Die Kassiererin.«
»Okay, ich erledige das gleich. Bleibst du hier?«
Das Walross nickt, der Schmächtige verschwindet.
Schweigen.
»War noch was? Sonst würde ich gern mit meiner Morgentoilette beginnen.«
»Jetzt halten Sie mal die Luft an, guter Freund. Das hier ist kein Kinderspiel, wie ich schon sagte. Da sind zwei Mädchen verschwunden. Und zwar bis jetzt vollkommen spurlos. Das erste, Ann-Kathrin, am vergangenen Mittwoch. Das zweite, Paula, gestern, also Freitag. Ann-Kathrin verschwand am Strand, sie war mit ihren Eltern und Geschwistern auf dem Rückweg zum Auto. Eine ganz normale Familie, die Urlaub auf der Insel macht. Und dann ist plötzlich die Jüngste weg. Aber das wissen Sie ja. Paula, das andere Mädchen, ist auf Sylt geboren. Ihre Mutter ist Laborantin, der Vater Arzt an der Nordseeklinik. Paula ist fünf Jahre alt und geht tagsüber in den neuen Waldorfkindergarten. Am Freitagnachmittag hat ihre Mutter sie dort abgeholt und mit zum Einkaufen genommen. In den Supermarkt in Hörnum. Während die Mutter in dem rappelvollen Laden an der rappelvollen Kasse bezahlte, sollte die Kleine schon mal den Einkaufswagen zurückschieben und dann am Auto warten. Aber als die Mutter dort ankam, war ihre Tochter nicht zu sehen. Und das änderte sich in der nächsten halben Stunde auch nicht. Paula war einfach weg. Wie vom Erdboden verschluckt.«
»Und was habe ich damit zu tun?«
»Tja, genau das fragen wir uns. Immerhin waren Sie beim Verschwinden des ersten Mädchens am Tatort. Und bisher haben Sie sich nicht als Zeuge zur Verfügung gestellt. Da ist der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass Sie etwas zu verbergen haben könnten. Ist Ihnen vor drei Tagen irgendetwas am Strand aufgefallen? Gab es etwas, das anders war als sonst?«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein. Herrgottnocheins, das ist Tage her. Seitdem habe ich mich einmal fast ins Koma gesoffen, wie Sie unschwer erkennen können. Woran soll ich mich denn jetzt noch erinnern?«
Das Walross seufzt. Fast klingt es mitleidig. Dann schließt der Muskelmann ganz langsam seine faltigen Augenlider. Sie liegen wie blaue Kappen auf zwei gutgebauten Tränensäcken. Sieht ziemlich fertig aus, das Gesicht, überlegt Fred. Nicht auszuschließen, dass das Walross ein Bruder im Geiste ist. Ein Gespräch unter Alkoholikern, das wäre doch mal was anderes.
»Wollen Sie sich nicht endlich setzen? Wenn Sie vorsichtig mit dem altersschwachen Korbstuhl da hinten in der Ecke umgehen, bricht er vielleicht nicht gleich zusammen.«
Das Walross öffnet die Augen wieder und angelt mit dem Fuß nach einem Bein des Korbstuhls. Das Rohr ächzt unter dem Gewicht des Mannes, hält ihm aber stand.
»Warum tragen Sie und Ihr Kollege keine Uniform?«
»Sehen Sie nicht fern? Das ist bei der Kripo nicht üblich.«
»Kripo, aha. Ich wusste gar nicht, dass wir so was Feines hier auf der Insel haben.«
»Da können Sie mal sehen. Ich bin allerdings vom Festland. Sondereinsatz. Natürlich arbeiten wir
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