Engel sterben
ihm und seinen blanken Messern. Aber Hans Iversen ist seit fünfzehn Jahren tot.
»Wollen Sie es sich nicht doch noch mal überlegen? Sie werden es sicher nicht bereuen! Wir haben prachtvolles Wetter im Moment, es ist fast zu heiß.«
Anja öffnet den Mülleimer und wirft das trockene Schinkenbrot und die Apfelspalten hinein.
»Das ist Ihr letztes Wort? Ja, natürlich muss ich das akzeptieren, auch wenn es mir schwerfällt. Okay, dann bis zum nächsten Jahr. Sie melden sich rechtzeitig? Gut, danke. Auf Wiederhören.«
Anja legt ganz langsam das Telefon aus der Hand. Ihr stehen die Tränen in den Augen. Sie schluckt tapfer, aber es werden immer mehr. Während sie nach einem Taschentuch sucht, denkt sie an die fünftausend Euro, die Sven und sie bei den Schwiegereltern geborgt haben, um die Renovierung zu finanzieren. Als Anja das Taschentuch gefunden hat und hineinschnaubt, denkt sie nur noch an ihre Tochter.
Mette wird es im Haus zu langweilig gewesen sein, vielleicht ist sie trotz des strengen Verbots der Eltern die Straße hinauf zu den Ponys gelaufen und hat einfach die Zeit vergessen. Es sind nur wenige hundert Meter bis zu der Weide. Das Grundstück der Winterbergs ist das vorletzte in der Straße. Nebenan hat man im letzten Jahr ein schönes, aber baufälliges Fachwerkhaus abgerissen und das Bauland teuer verkauft. Seit drei Monaten wird neu gebaut, vermutlich werden die zukünftigen Nachbarn noch vor Weihnachten einziehen können. Am Samstagnachmittag sind keine Arbeiter auf der Baustelle, aber der Architekt begutachtet gerade den Treppenschacht. Als Anja ihn anspricht, schüttelt er den Kopf. Nein, ein blondes Mädchen habe er ganz bestimmt nicht gesehen. Ohne Dank und Antwort hastet Anja weiter.
Die Ponys dösen vor sich hin, einige schleppen sich mit müden Schritten durch die schwüle Luft. Hier ist Mette auch nicht. Anja riecht plötzlich ihren eigenen Achselschweiß. Seit einer Woche ist jetzt schon Ostwindwetter, die Nordsee wellenlos und voller Quallen. Auch der eine Sturmtag konnte daran wenig ändern. »Mord in der Hitze?« und »Ostwind-Killer dreht durch« hat der
Sylter Anzeiger
getitelt, als er vom Verschwinden der beiden Mädchen berichtete.
Anja dreht sich um und läuft zurück. Das Kind kann doch gar nicht weit sein. In zehn Minuten wird sie die Tochter gefunden haben. Sie kennt hier schließlich jedes Haus.
Hinter dem Knoop’schen Küchenfenster sitzt die Familie und isst. Anja zählt fünf Köpfe, den Pfarrer, seine Frau und ihre drei Kinder. Hier ist Mette also nicht untergeschlüpft. Auf der anderen Straßenseite sitzt die alte Frau Vester vor dem Garagentor und starrt über die Straße. Sie ist die Einzige im Dorf, die immer noch den Sommer über in den Keller zieht, um ihre gute Stube zu vermieten. Natürlich kann die Alte Mette nicht gesehen haben, sie ist fast blind. Anja entschuldigt sich sofort für ihre hastig vorgetragene Frage. Frau Vester lacht, als habe Anja einen guten Witz gemacht. Mette sei wirklich vorbeigekommen und weiter in Richtung Whiskystraße gelaufen, das wisse sie genau, schließlich erkenne sie die Kleine am Schritt. Aber das sei schon vor einer halben Stunde gewesen. Wirklich? Wirklich.
Anja hetzt weiter. In einer halben Stunde kann viel geschehen. Alles.
Was wollte Mette in der Whiskystraße? Der Name, den die Einheimischen dem Strönwai schon vor Jahrzehnten gegeben haben, scheint Anja plötzlich unheilschwanger und bedrohlich zu sein. Was wollte ihr Kind zwischen teuren Geschäften und überfüllten Bars? Zwischen flanierenden Touristinnen und ihren lolitahaft herausgeputzten Töchtern? Anja weiß genau, wie sehr ihre Lütte die bornierten Blicke hasst, die schon die Altersgenossinnen ihr zuwerfen, sobald sie im Schlepptau ihrer polnischen Kindermädchen Mettes Weg kreuzen. Auch die kleinen Jungen, die wie übergewichtige Minibosse in beigefarbenen Bermudas und geringelten Ralph-Lauren-Shirts über die Bürgersteige stolzieren, können Mette gestohlen bleiben.
Längst hat Anja den beschaulichen Teil Kampens hinter sich gelassen. Vor ihr liegt die Hauptstraße, auf der man von einem Ende der Insel zum anderen kommt. Die Wagen kriechen durch den Ortskern, immer wieder gibt es Verzögerungen, außerdem ist die Ampelphase zu kurz. Anja überquert die Straße zwischen den dicht stehenden Wagen. Der Rückstau reicht bis zum Ortsausgang. Jeder dritte Wagen ist offen. Sorglose Menschen, entspannte Gesichter. Bei diesem Wetter fahren die Gäste spät zum
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