Engel sterben
hinunter.
»Herr Steingart, sind Sie das?«, ruft Mona, obwohl sie sich sicher ist.
Wer sonst sollte sich für dieses Haus interessieren?
Anstelle einer Antwort nähert sich eine hochgewachsene Gestalt, deren Gesicht Mona nicht erkennen kann, als sie sich von dem grellen Neonlicht im Kellerraum zu dem vergleichsweise dämmrigen Kellergang umdreht, und während Mona noch überlegt, wie sie die Einrichtung dieses letzten Kellerraums dem Kaufinteressenten am unverfänglichsten erklären kann oder ob es vielleicht nicht eher an der Zeit wäre, die Polizei einzuschalten, versetzt ihr die Gestalt aus dem Schatten einen harten Stoß gegen die Brust. Mona taumelt rückwärts in den neonhellen Raum hinein. Immerhin gelingt es ihr, einen Sturz zu vermeiden, nach einigen stolpernden Schritten hat sie sich wieder gefangen und läuft mit einem schrillen Schrei, der ihr selbst fremd und unheimlich in den Ohren gellt, zurück zur Tür.
Doch zu spät. Metall knallt auf Metall, ein kurzer, harter Ton, der von den kahlen Wänden zurückhallt, gefolgt von dem doppelten Schnappen des Türschlosses. Klar, der Schlüssel steckt immer noch von außen.
Was bildet dieser Steingart sich ein? Will er ihr mit diesem schlechten Scherz Angst einjagen? Sie sind doch hier nicht im Kindergarten. Monas Fäuste trommeln gegen das kalte Metall.
»Machen Sie sofort wieder auf. Das ist nicht witzig!«
Aber es ist kein Witz.
Leise und gleichmäßig entfernen sich die Schritte jenseits der Tür. Ruhig steigen die Füße die Kellertreppe hinauf. Dann folgt ein schwaches Geräusch, das vielleicht von der zufallenden Tür zur Küche herrühren könnte. Ob auch dort der Schlüssel im Schloss gedreht wird, kann Mona nicht mehr hören.
Sie dreht sich um.
Und dann geht sie mit schwankenden Schritten zu einem der vier Betten, die aufgereiht an den Wänden stehen, lässt sich darauf fallen und beginnt, unkontrolliert zu schluchzen.
Samstag, 25. Juli, 18.12 Uhr,
Braderuper Weg, Kampen
Die Schinkenscheibe wellt sich auf dem Vollkornbrot. Die Apfelstücke werden langsam an den Schnittkanten braun. Durchs Küchenfenster sticht die Abendsonne. Anja Winterberg fühlt mit der linken Hand an der Tasse, der Tee ist nur noch lauwarm. Dann sieht sie auf die Uhr. Sechs vorbei. Das Abendessen steht seit einer halben Stunde auf dem Tisch, und Mette ist immer noch nicht aus ihrem Zimmer gekommen. Doch Anja kann jetzt nicht ein weiteres Mal nach der Lütten rufen, sie versucht seit zehn Minuten, die Feriengäste am Telefon zu beruhigen.
»Ich verstehe Ihre Bedenken! Natürlich sind das furchtbare Vorfälle. Aber wollen Sie deswegen wirklich auf Ihren Urlaub verzichten?«
Vielleicht ist Mette zum Spielen in den Garten gegangen, als Anja den Tee gekocht hat. Oder als das Telefon geklingelt hat. Ein verzweifelter Blick durchs Küchenfenster. Sonne, Stille, kein Kind.
»Ich habe den Artikel im
Hamburger Abendblatt
auch gelesen, natürlich informieren wir uns. Außerdem ist mein Mann ja mit der Sache befasst. Sie wissen doch, dass er bei der Kriminalpolizei ist.«
Vier Wochen Mietausfall in der besten Saison wären mehr als fünftausend Euro weniger in der Familienkasse.
Anja sucht den Garten mit den Augen ab, den Steinwall mit der Wildrosenhecke, die Wiese, die Blumeninseln und die gepflasterte Kuhle am Ende des Grundstücks, in der Strandkorb, Tisch und Stühle stehen. Ein leeres Paradies. Mette ist nicht hier.
»Wir haben im Frühjahr das ganze Gästehaus renovieren lassen. Die Küchenmöbel sind neu, die Matratzen und alle Vorhänge auch. Das Haus wartet auf Sie.«
Anja hasst sich selbst für den flehenden Klang ihrer Stimme. Sie weiß längst, dass alles Betteln sinnlos sein wird. Warum sollten die Hamburger ihre Ferien auf einer Insel verbringen, auf der ein Mädchenentführer sein Unwesen treibt? Niemand, der Kinder in dem gefährlichen Alter hat und noch bei Verstand ist, würde das tun.
Während der Hamburger Professor Anja mit gewundenen Sätzen erklärt, was sie ohnehin längst weiß, wandern ihre Blicke immer wieder über den Garten. Verlassen liegt das Gästehaus hinter der Kuhle mit dem Strandkorb. Früher diente es als Kühlhaus und gehörte zu der Fleischerei, die sich jahrzehntelang auf dem Nachbargrundstück befand.
Anja sieht den flachen Bau durchs Küchenfenster, und plötzlich ist ihr, als stünde der alte Schlachter davor, behäbig, von gedrungener Statur. Er sprach das breiteste Platt auf der ganzen Insel, und alle Kinder hatten Angst vor
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