Engel sterben
Schnell wendet er sich ab.
»Frau Strieter?«
»Ja?«
Ihre Stimme ist leise und zittert ebenso, wie ihre Hand es vorhin getan hat.
»Sie kommen am besten mit hoch bis zum Ende der Straße. Dann gehen Sie von der Dünenseite hinunter bis zum
Leysieffer
. Dort haben Sie doch Ihre Nichte draußen warten lassen, oder?«
»Ich wollte ihr das Samstagnachmittags-Gedränge hinter der Theke ersparen.«
»Es ging nicht darum, Sie zu kritisieren.«
»Was glauben Sie, was ich mir schon für Vorwürfe gemacht habe. Hätte ich nur die Pralinen woanders gekauft. Aber wir waren am Abend eingeladen, und ich brauchte noch ein Mitbringsel.«
»Sie können nichts dafür, hören Sie auf, sich Vorwürfe zu machen. Das bringt gar nichts.«
Bastian Kreuzers Tonfall ist schärfer, als er beabsichtigt hat. Zu seinem Entsetzen beginnt Barbara Strieter zu weinen. Schniefend zieht sie ein Papiertaschentuch aus dem Ärmel ihres T-Shirts. Das Taschentuch wird nicht zum ersten Mal benutzt.
»Tut mir leid. Ich wollte Sie eigentlich trösten.«
»Das kann niemand. Und Sie schon gar nicht. Ich werde mir das nie verzeihen. Das Kind einfach so allein zu lassen. Aber dass sie dann auch gleich verschwindet.«
Die Verwunderung darüber steht auch jetzt wieder auf Barbara Strieters Gesicht geschrieben. Bastian Kreuzer blickt ihr eindringlich in die Augen. Er weiß aus Erfahrung, dass oft nur Aktivismus die Angehörigen von Opfern einer Straftat in der Realität halten kann. Sie müssen das Gefühl haben, etwas tun zu können, bei der Suche nach dem Täter behilflich zu sein.
»Okay. Lassen Sie uns anfangen. Sie gehen jetzt ins
Leysieffer,
und Mette versteckt sich hinter der Hecke. Wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe, verlassen Sie den Laden und tun haargenau dasselbe, was Sie gestern getan haben.«
Als alle Kreuzers Anweisungen gefolgt sind, atmet er einmal tief durch. Jetzt geht es also los. Die Zeit läuft rückwärts. Es ist wieder Samstagnachmittag. Noch ist alles in Ordnung. Aber gleich wird ein Mädchen verschwunden sein. Kreuzer hebt die Hand und gibt sowohl Barbara Strieter als auch Mette das Zeichen zu beginnen.
Barbara Strieter verlässt den Laden und geht langsam den Strönwai hinunter in Richtung Parkplatz. Lises Tante blickt sich häufig um, sie sucht vor den Schaufenstern und in Restauranteingängen. Sie findet nichts und niemanden. So wie gestern Nachmittag auch. Jetzt nähert sie sich der Rosenhecke, hinter der Mette wartet. Lises Tante sieht die Kleine nicht an, sie hat das Mädchen auch gestern nicht bemerkt, das hat sie schon zu Protokoll gegeben. Die gesamte Entführung muss sich also in den höchstens fünfzehn Minuten abgespielt haben, die zwischen Barbara Strieters Betreten der
Leysieffer
-Filiale und dem Vorbeifahren des Entführers mit Lise im Wagen an der steinewerfenden Mette gelegen haben.
Auch jetzt klacken die Steine auf das Straßenpflaster. Hohl klingt das Geräusch durch den Morgen. Bis auf einen einsamen Jogger am Ende der Straße ist niemand zu sehen. Barbara Strieter bleibt ratlos vor Bastian Kreuzer stehen.
»Und? Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?«, will er wissen.
»Nein, nichts. Gestern nicht und jetzt auch nicht. Es gibt nur einen Unterschied. Gestern habe ich etliche Leute nach Lise gefragt, aber alle haben mich angesehen, als würde ich sie belästigen wollen. Die hatten Besseres zu tun, als nach einem kleinen Mädchen zu suchen.«
»Verdammter Mist, es muss uns doch irgendetwas auffallen«, schimpft Kreuzer leise. »Dafür sind diese Rekonstruktionen doch da. Es fällt einem immer etwas auf.«
»Ich habe natürlich nicht auf die Autos geachtet«, sagt Lises Tante mit kläglicher Stimme. »Ich habe nur die Fußgänger angesehen. Lise ist ja recht klein, und ich dachte lange, wahrscheinlich viel zu lange, ich könne sie zwischen den vielen Leuten einfach nicht entdecken.«
»Also die Bürgersteige waren voller Menschen?«
»Ja, natürlich, wie jeden Nachmittag. Die Leute kommen und nehmen einen Aperitif oder gehen shoppen, was weiß ich.«
»Wenn da jemand ein Kind in seinen Wagen gezwungen hätte, wäre das nicht unbemerkt geblieben.«
»Eigentlich nicht. So blind können die Menschen ja kaum sein.«
»Also wird der Entführer Lise irgendwas erzählt haben, das sie Vertrauen fassen ließ.«
»Oder sie kannte ihn.«
»Normalerweise würde ich Ihnen recht geben, aber wir haben die Verbindungen aller drei Familien untersucht. Da gibt es keine Überschneidungen.«
»Ich habe keine Steine
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