Engel sterben
mehr«, kommt Mettes Stimme von der Rosenhecke.
»Das macht nichts. Kannst du dich an Frau Strieter erinnern? Hast du sie gestern Nachmittag hier vorbeilaufen sehen?«
»Frau Strieter?«
»Lises Tante hier neben mir. Ich habe sie dir vorhin vorgestellt.«
»Ach ja, stimmt. Aber gestern habe ich sie nicht gesehen. Ich habe doch nur auf die Autos geguckt.«
Wütend tritt Kreuzer gegen einen etwas größeren Stein, den Mette vor wenigen Augenblicken auf den Gehweg geworfen hat. Der Kiesel rollt übers Pflaster und landet im Rinnstein zwischen Zigarettenkippen und zwei erstaunlich weißen Federn.
»Ganz schön viel Müll hier auf der Straße«, schimpft Kreuzer leise.
»Kann ich jetzt rauskommen?«
Mettes Stimme hinter der Hecke klingt ungeduldig.
»Einen kleinen Moment noch. Ich gehe zum Parkplatz und rufe deine Mutter. Sie soll bis zu dir laufen und dich finden. Schaffst du es noch so lange?«
»Ja, ist gut.«
»Und Sie kommen noch einmal aus dem
Leysieffer
, okay?«
Wortlos macht sich Barbara Strieter auf den Rückweg den Strönwai hinauf. Anja Winterberg reagiert schon von weitem auf Kreuzers Winken. Mit schnellen Schritten nähert sie sich der Hecke. Sie macht ihre Sache schlecht und versucht gar nicht erst, ihr Verhalten vom gestrigen Tag zu kopieren. Als sie angekommen ist, bleibt sie abrupt stehen und starrt auf ihre Tochter.
»Haben Sie Mette so entdeckt?«
»Nein. Auf die Idee, dort zu suchen, wäre ich wahrscheinlich nicht von selbst gekommen. Jemand hat sie mir gezeigt.«
»Ach, das haben Sie noch gar nicht erzählt. Wer war das?«
»Ein Badegast.«
»Woher wissen Sie, dass es ein Badegast war?«
»Einheimische sehen anders aus. Er war, wie soll ich sagen, geschniegelt.«
»Und er hat gesehen, dass Sie etwas suchen?«
»Ja, er hat mich angesprochen, gefragt, ob er helfen könne.«
»Für einen Badegast ist das ungewöhnlich. Frau Strieter hat gerade gesagt, dass sich niemand für ihre Suche interessiert habe.«
»Ich war auch irritiert. Aber glauben Sie mir, ich war dankbar für jede Hilfe. Und er hat mir Mette ja auch tatsächlich gezeigt.«
»Wo haben Sie mit ihm geredet?«
»Etwas weiter unten an der Straße.«
»Würden Sie ihn wiedererkennen?«
»Warum fragen Sie?«
»Wenn er das eine Mädchen gesehen hat, dann vielleicht auch das andere.«
»Unmöglich ist das nicht. Ich würde ihn bestimmt erkennen, aber dafür müssten Sie ihn erst einmal finden.«
»Wir könnten eine Phantomzeichnung anfertigen und ihn als Zeugen suchen lassen. Einen Versuch wäre das doch wert.«
»Wenn Sie glauben, dass er sich meldet.«
»Warum sollte er nicht?«
»Ich weiß nicht, ich will gar nicht schlecht über ihn reden, aber er war mir irgendwie … unheimlich.«
»Unheimlich?«
»Ja, er hatte etwas Lauerndes.«
»Ein Grund mehr, nach ihm zu suchen.«
Na bitte, denkt Kreuzer, wusste ich es doch. Irgendetwas fällt einem immer auf.
Sonntag, 26. Juli, 10.40 Uhr,
Möwengrund, List
Der ausgebreitete Inselplan bedeckt die Hälfte des Bettes. Zunächst fällt Fred nur auf, was fehlt. Die neue Straße zwischen Westerland und Wenningstedt. Die Bebauung am Rantumer Becken. Die Amüsiermeile am Lister Hafen. Doch langsam sieht er mehr. Eine Inselstruktur, die sich über Jahrzehnte erhalten hat. Naturschutzgebiete, die in Form und Größe nahezu unverändert geblieben sind. Und natürlich die eigenartige Topographie von Sylt, die nicht unwesentlich den Charme der Insel ausmacht. Schmal und lang, durch eine vertikale Straße problemlos von Norden nach Süden zu erschließen. Eine Insel wie ein gekipptes T, dessen freistehende Ostachse durch die dominante Bahnstrecke beherrscht wird.
Was macht ein Mensch, der sich mit dem Auto fortbewegt und etwas zu verbergen hat, wenn er auf dieses Straßennetz angewiesen ist? Fred greift nach einem Kugelschreiber und kringelt die Stelle an den Lister Dünen ein, an der sich der Parkplatz befindet, wo das erste Mädchen verschwunden ist. Dann fährt er mit dem Finger die Hauptstraße hinunter bis nach Hörnum, die ganze Strecke vom äußersten Norden bis zum letzten Südzipfel. Merkwürdig. Warum hat sich der Entführer nicht oben ein zweites Opfer gesucht? Die Lage des Hörnumer Supermarktes ist Fred nicht genau bekannt, aber war es nicht am Ende der Landstraße? Er setzt einen weiteren Kringel an diese Stelle. Und dann ist der Mann wieder hinaufgefahren bis zur gefühlten Inselmitte. Nach Kampen. Ins Herz Sylts.
Fred stockt. Die Inselmitte ist Westerland.
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